Zur Bundestagswahl 2009: Internationale Pressestimmen
Wie sehen die Medien im Ausland den Sieg von Schwarz-Gelb? Stimmen unter anderem aus Libération, The Times, New York Times und Hürryiet.
Libération (Paris): Die deutsche Sozialdemokratie hat sich nicht erneuern können, und ihre Männer sind durch eine allzu lange Anpassung an die Ordnung der Dinge verbraucht. Zudem sind die kritische und die regierende Linke unfähig gewesen, miteinander in Dialog zu treten, bis zu dem Punkt, dass, selbst wenn die SPD mit Linken und Grünen eine Mehrheit erzielt hätte, sie mangels Verständigung regierungsunfähig gewesen wäre. Mangel an Mut, Verschleiß im Regierungsgeschäft, gegenseitige Beschimpfungen: Für die Linke in Frankreich und in Deutschland ist der Rhein keine Grenze mehr.
The Times (London): Am Sonntagabend unterbrach das Staatsfernsehen die Stimmenauszählung, um die "Lindenstraße" zu senden. So mögen die Deutschen ihre Politik. Sie haben außerordentliche Veränderungen erlebt, aber sie brauchen sie in kleinen Dosen. Frau Merkel, die die Kunst, ausführlich über Kartoffeln zu sprechen, versteht, hat diesen Puls gefühlt. Aber jetzt muss sie Unbeliebtheit riskieren. Als bei ihrer letzten Wahlkundgebung die Nationalhymne erklang, sah es so aus, als habe sie Tränen in den Augen, so als sei ihr aufgegangen, was vor ihr liegt. Vielleicht war es aber auch nur ein Staubkorn.
La Repubblica (Rom): Das war eine wuchtige Niederlage für die deutschen Sozialdemokraten, noch schlimmer als angenommen, und sie bestätigt die schwierige Phase, in der alle Mitte-links-Parteien in Europa derzeit sind. Nach Vorhersagen und Umfragen wird auch Labour bei den im Frühjahr in Großbritannien vorgesehenen Wahlen die Macht abgeben müssen. Der Niedergang der Fortschrittlichen stellt einen tiefgehenden und anhaltenden Trend dar.
Die New York Times: Frau Merkel sollte insbesondere in der Wirtschaftspolitik dem Druck widerstehen, zu weit nach rechts zu rücken. Was die Welt von Deutschland am meisten braucht, ist eine weitere Runde breit angelegter Konjunkturprogramme, nicht regressive, angebotsorientierte Steuersenkungen.
Der Standard (Wien): Man kennt und schätzt sich seit Jahren. Und daher hat sich Angela Merkel ihre ersten Gespräche mit FDP-Chef Guido Westerwelle vielleicht so vorgestellt: "Also, die Ministerien teilen wir ja schnell auf, bei der Steuersenkung werden wir uns auch rasch einig. Noch ein Keks, Guido?" Doch nicht einmal 24 Stunden nach der Wahl muss Merkel mit Entsetzen feststellen: Westerwelle will nicht nur ein Keks. Er will fast die Hälfte der Packung. Merkel wird aufpassen müssen, dass die Tigerente nicht zu gelb wird.
De Volkskrant (Amsterdam): Es gibt eine rechte Regierung und eine vollständig linke Opposition. Aber so einfach ist das auch wieder nicht. Eine Frage für die kommenden Wochen ist, ob die FDP und die CDU/CSU tatsächlich so harmonisch zusammenarbeiten können, wie sie hoffen. Schwarz-Gelb dürfte diesmal anders aussehen als einst unter Kanzler Helmut Kohl. Die FDP ist heute viel größer als damals und dürfte viel mehr einbringen wollen. Auch wenn Angela Merkel bei bestimmten sozialen Themen nicht mit ihr einverstanden sein sollte.
Rzeczpospolita (Warschau): In der Außenpolitik sind wohl keine großen Änderungen zu erwarten. Streitfragen mit Polen werden nicht verschwinden. Das betrifft die Ostsee-Pipeline und die Geschichtspolitik. Die Liberalen hatten einst am lautesten Gerhard Schröder kritisiert, als er bei dem Gaspipeline-Bauer die Stelle annahm. Heute ist die FDP, deren Chef Westerwelle den Außenministerposten übernehmen will, mit dem Projekt versöhnt. In den Geschichtsfragen kann Polen nur hoffen, dass die FDP eine ähnliche Rolle spielen wird wie bisher die SPD: die Konservativen bremsen und mehr Sensibilität gegenüber den Nachbarn zeigen.
Hürryiet (Europaausgabe): Die Wahl wird sowohl für die Türken, die in Deutschland leben, als auch im Hinblick auf die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei die Dinge erschweren. Die eigentliche Wahlsiegerin, die FDP, bemüht sich, in Sachen eines türkischen EU-Betritts oder zu den Problemen der in Deutschland lebenden Türken nicht allzu deutlich Farbe zu bekennen. Zum EU-Beitritt scheint sie eine ambivalente Position einzunehmen und den Türken im Land wohlgesinnt zu sein, in Wahrheit aber ist sie auf derselben Linie wie Merkel.
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