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■ Zum ersten Mal wird eine geplante ICE-Trasse gekippt. Die Entscheidung ist Teil einer verkehrspolitischen Wende bei der Bahn  Von Hannes KochDie Weichen neu gestellt

Wer von Berufs wegen in den Zug steigt, hat es immer eilig. Fernreisende, die die Oma in der Hauptstadt besuchen wollen, oft auch. Den Schnellmobilisten versprach die Bahn eine Zeitersparnis von bis zu zwei Stunden auf der Zugfahrt von München nach Berlin. Dafür wollte der Konzern ein neues Stück ICE-Strecke zwischen Nürnberg und Erfurt bauen. Eine Zeitersparnis – erkauft mit etwa einer Milliarde Mark. Soviel würde die Hochgeschwindigkeitsstrecke mit ihren 29 riesigen Brükken und 22 aufwendigen Tunneln durch den Thüringer Wald kosten.

Doch jetzt hat Bundesverkehrsminister Franz Müntefering (SPD) die Notbremse gezogen. Zum ersten Mal stoppt die Bundesregierung den Bau einer Hochgeschwindigkeitstrasse – eine kleine Revolution in der Verkehrspolitik. Durch die Entscheidung vom Mittwoch abend wird erstmals auch eines der prestigeträchtigen „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“ auf Eis gelegt, das – kurz nach der Wende von 1989 erdacht – schnellstens eine leistungsfähige Verbindung nach Ostdeutschland herstellen sollte.

Müntefering verkündete die Entscheidung. Vorbereitet aber hatte den Politikwechsel der Bahn-Vorstand selbst. Während Ex-Bahn-Chef Heinz Dürr immer neue ICE-Strecken durchsetzte und den Regionalverkehr stiefmütterlich behandelte, gab Nachfolger Johannes Ludewig vor 15 Monaten eine großangelegte Überprüfung der Planungen in Auftrag. Das Ergebnis verabschiedete der Aufsichtsrat des Konzerns nun unter dem Titel „Netz 21“ und vollzog damit den radikalen Bruch zur bisherigen Strategie.

„Ein epochaler Schritt“, rühmt der grüne Verkehrsexperte Albert Schmidt den Beschluß, an dem er selbst als Aufsichtsratsmitglied der Bahn beteiligt war. Der ICE Nürnberg – Erfurt dürfte nicht das letzte Großprojekt sein, das stirbt: Ebenso stehen die Verbindung Stuttgart – Ulm, der Neubau des Stuttgarter Bahnhofs und der Transrapid auf der Abschußliste.

Daß der Konzern den Minister in langen Diskussionen von dem Richtungswechsel erst überzeugen mußte, hören die Beteiligten nicht gerne. „Wir wurden in die Entscheidung einbezogen“, sagt Bahn-Sprecher Reiner Latsch.

Mit 37 Milliarden Mark Investitionen bis 2010 will das Verkehrsunternehmen nun das bestehende Netz modernisieren und auf Neubau weitgehend verzichten. Die zugrunde liegende Analyse: ICEs sind zwar schnell, doch fressen die alten, langsamen Zubringerzüge auf vergammelten Gleisen, dirigiert von vorsintflutlichen Stellwerken, den Zeitvorteil bei vielen Reisenden wieder auf. Außerdem hat die Bahn AG erkannt, daß sie ihr Geld mit den schnurgeraden, technisch aufwendigen Schnelltrassen verschwendet. „Wir erreichen einen größeren Effekt, wenn wir das vorhandene Netz ausbauen“, so Bahn-Sprecher Latsch.

Im Vergleich zu einem Zeitvorteil für relativ wenig ICE-Passagiere lassen sich mit dem gleichen Geld Verbesserungen für viele Reisende erreichen, die auf kleineren Strecken fahren. Heute noch ärgern sich zum Beispiel die Pendler zwischen Erfurt und Jena über die lahme Zuggeschwindigkeit von rund 50 Stundenkilometern. Diese häufig benutzte Strecke soll viel schneller werden – dank der eingesparten ICE-Milliarden.

Das Konzept „Netz 21“ sieht nun den Bau von sieben Kontrollzentralen vor, von denen aus ein großer Teil des Zugverkehrs in der ganzen Republik elektronisch gesteuert werden kann – was natürlich auch Personal überflüssig macht. Überhaupt stützt sich die Bahn besonders auf die Leittechnik: Mit neuem „Funkfahrbetrieb“ sollen sich die Züge die Weichen und Signale selbst stellen. Dadurch passen mehr Züge mit höherer Geschwindigkeit auf die Schienen. Außerdem will der Konzern mehr mittelschnelle Neigetechnikzüge einsetzen sowie den langsamen und schnellen Verkehr entflechten, damit Güterzüge nicht die Personenbahnen aufhalten.

Der Sinneswandel kam freilich auch dadurch zustande, daß SPD-Minister Müntefering nach der Übernahme der Amtsgeschäfte von CDU-Vorgänger MatthiasWissmann die „dramatische Unterfinanzierung des Bundesverkehrswegeplanes“ erkennen mußte. Es fehlten mindestens 80 Milliarden Mark für die nächsten Jahre. Hinzu kommt der Spardruck im Bundeshaushalt. Schnell wurde klar, daß sich nicht teure Neubauvorhaben und die Sanierung des Netzes mit einer bundesweiten Länge von 38.000 Kilometern gleichzeitig finanzieren lassen.

Für die Bahn stellt die neue Strategie auch eine Flucht nach vorne dar. Wie kaum zuvor hatte ihr das vergangene Jahr Katastrophen und Rückschläge eingebracht. Mit dem verunglückten ICE in Enschede zerschellte auch der Mythos vom schnellen, aber trotzdem sicheren Verkehrsmittel. Ewige Verspätungen trieben außerdem viele zurück auf die Autobahn. Daran, daß man mit der Bahn zuverlässig reisen kann, glauben immer weniger Leute.

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