■ Zum Wahlausgang in Litauen: Keine Angst vor Brazauskas!
Die „Nostalgie nach dem Sozialismus“, die bei Wahlen in den ehemals realsozialistischen Ländern den Wendekommunisten zum Teil spektakuläre Erfolge bescherte, ist, bei Licht besehen, Sehnsucht nach der verlorenen Sicherheit. Nur Sehnsucht nach der beheizten Knastzelle, nur hilflose Reaktion auf den Schock der Freiheit? Gewiß, das auch. Zu viele Existenzen sind durch die notwendige gesellschaftliche Umwälzung bedroht, als daß eine Demagogie, die sich auf das ärmliche, aber eben vertraute Gestern stützt, nicht auf Massenanhang zählen könnte. Aber Vorsicht bei Verallgemeinerungen. Nicht überall schleppen die Wendekommunisten den organisatorischen wie ideologischen Ballast mit sich herum, der sie zu Sprechern einer perspektivlosen Linie der Besitzstandswahrung prädestiniert! Wo im Unabhängigkeitskampf vom Sowjetimperium die heimischen Nomenklaturisten rechtzeitig die Pferde wechselten, wo sie ein politisches Programm des moderaten, stufenweisen Übergangs zu Marktwirtschaft und Privateigentum entwickelten, mit einem Wort, wo sie sich sozialdemokratisierten, konnten sie zur demokratischen Alternative werden. Genau das ist der Fall bei der Demokratischen Partei der Arbeit Litauens.
Die Ergebnisse der Parlamentswahl vom Wochenende, die der Partei Brazauskas ein rundes Drittel der abgegebenen Stimmen bringen werden, sind in erster Linie Ausdruck des demokratischen Protests. Die relative Mehrheit der Wähler hat den autokratischen Regierungsstil des Parlamentspräsidenten Landsbergis zurückgewiesen, wie sie schon im Sommer (in einem Referendum) den Versuch Landsbergis vereitelt hatte, ein Präsidialsystem mit außerordentlichen Vollmachten für das Staatsoberhaupt durchzubringen. Das Wahlergebnis zeigt zum zweiten, daß ein großer Teil der litauischen Bevölkerung mit einer Wirtschaftspolitik nicht einverstanden ist, die in der Eigentumsfrage nach dem Rückgabeprinzip verfährt, ohne — vor allem in der Landwirtschaft — Kooperativen die Möglichkeit einzuräumen, Grund und Boden zu erwerben. Die aus politischen Gründen mit dem Voucher-System den Bürgern den Schein von Miteigentum an ehemaligen Staatsbetrieben verschafft, gleichzeitig damit aber die Möglichkeit vereitelt, die Kapitalausstattung dieser Betriebe zu verbessern. Die ihr Bestes tut, die schwierigen Beziehungen zur Russischen Föderation, Rohstoff- und Energielieferant Nr. 1, noch zu verschlechtern.
Pech für Landsbergis, daß die Angstparolen, mit denen die ihn stützende rechte Koalition den Wahlkampf bestritt, nicht verfingen. Jemanden wie Algirdas Brazauskas, der während der von Gorbatschow über Litauen verhängten Blockade verantwortlich für die Versorgung der Bevölkerung war, kann man schlecht als potentiellen Agenten Moskaus hinstellen. Dennoch hat Brazauskas' Partei keine Chance, Koalitionspartner für eine Regierung zu finden. Aber aus der Opposition heraus wird sie, schon kraft ihres Einflusses auf die pragmatischen Kräfte in einer künftigen Rechts-Mitte-Koalition, eine Modifizierung des bisherigen nationalistischen, die Gesellschaft polarisierenden Kurses erzwingen. Christian Semler
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