■ Zum Schattenboxen um die Pflegeversicherung: Rettungsboote raus!
Hört auf mit dem Schattenboxen um die Pflegeversicherung! So, wie sie geplant war, wird sie nicht kommen. Den Zeitpunkt, sie in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität zu etablieren, haben die politischen Parteien versäumt – oder besser gesagt, die Lobbyistenzirkel der Unternehmerverbände haben sie geschickt verhindert. Nur vor den Wahlen durfte Norbert
Blüm seine Alten mit der trügerischen Hoffnung umgarnen. Erfolgreich, wie wir wissen. Chapeau, meine Herren, die Taktik ging auf! Und eine nicht existente Opposition ließ sie gewähren. Jetzt ist der Zeitpunkt verpaßt.
Also, wenn das hälftig von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzierte Modell jede Chance auf Realisierung verloren hat, heißt es Umdenken. Auch taktische Ausflüchte in eine Karenztagediskussion sind langfristig Nonsens. So viele Feiertage und Urlaubstage haben wir gar nicht, wie wir bei anhaltender Rezession und Überalterung an Kompensationstagen brauchten. Der angepeilte Beitragssatz von 1,7 Prozent der beitragspflichtigen Verdienste ist ja schon heute Makulatur. Außerdem ist der Vorschlag, wirklich Kranke für Alte zahlen zu lassen, der Gipfel marktwirtschaftlicher Perversion. Da wäre es schon sinnvoller, an der Wurzel unserer Sozialdefinitionen zu suchen. Sind denn wirklich all die Krankgeschriebenen krank – und versorgungspflichtig? Oder sind nicht viele von ihnen in unseliger Allianz mit Ärzten, die an ihrer Krankheit verdienen, zu dankbaren Handlangern von Gruppeninteressen geworden? Zum Wohle einzelner und zum Schaden der Allgemeinheit? Können wir uns unsere Schlaraffenlandmedizin noch leisten oder müssen wir nicht jetzt und sofort über Kompensationsleistungen aus dem üppigen Topf unserer Krankenkassenbeiträge zugunsten der Alten nachdenken? Also ganz neue Prioritäten unserer Versorgungsleistungen erstellen.
Wenn der Dampfer sinkt, müssen die Rettungsboote raus. Dann haben die Schwachen und Hilflosen Vorrang vor den Gesunden. Dann muß teure Beliebigkeitsmedizin hinter der akuten Betreuung von Alten und Kranken zurückstehen, jedenfalls als kassenfinanzierte Solidarleistung. Das wäre doch Solidarität, oder? Hier gibt es noch erhebliche Finanzierungsreserven. Zur Zeit sind keine Wahlen. Es muß zur Mehrheitsbeschaffung nicht gelogen werden, also ran! Die Pflegeversicherung alter Prägung ist tot, da hilft kein Wehgeklage. Sie war das Modell einer Wohlstandsrepublik. Die Politik hat sie über das Verfallsdatum verkommen lassen. Doch die Alten brauchen Hilfe. Vielleicht folgt der Krise ja die Katharsis? Heidi Schüller
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen