■ Zum Machtkampf zwischen Volkskongreß und Boris Jelzin: Rußland muß sich selber helfen
Die Entwicklung auf dem Kongreß der Volksdeputierten wird in der Öffentlichkeit vor allen Dingen als Niederlage für Präsident Jelzin wahrgenommen. Jelzin, der bekannt ist als glänzender Reformer oder auch nur als steuernder Politiker, ist inzwischen ebenso Geschichte wie sein Vorgänger Michail Gorbatschow. Dem Präsidenten bleibt heute die Möglichkeit, entweder als Symbol einer dann vergangenen Reformpolitik im Amt zu bleiben, ähnlich etwa der englischen Königin, oder er hat die Möglichkeit, Ausfallschritte zu unternehmen, um diese Verfassungskrise in seinem Sinne zu lösen. In letzterem Fall gibt es im Prinzip zwei Varianten: Entweder er entscheidet sich dafür, grundsätzlich im Rahmen der geltenden Verfassung zu regieren, dann bliebe ihm nach wie vor der Weg, ein Referendum zu suchen oder aber vorzeitige Neuwahlen anzustreben. Er könnte sich aber auch dafür entscheiden, außerhalb der Verfassung zu regieren, was ihm wiederum zwei Möglichkeiten böte: ein Präsidial- oder aber ein Notstandsregime zu installieren. In diesem Fall bräuchte er die Unterstützung mindestens eines beträchtlichen Teils des Militärs und des Sicherheitsapparates wie auch wichtiger Republiken und Regionen im Bestand der russischen Föderation. Beide Varianten wären mit erheblichen Risiken verbunden.
Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets, Chasbulatow, der in der Öffentlichkeit vor allen Dingen als Gegenspieler Jelzins wahrgenommen wird, steht faktisch nur für sich selbst. Er repräsentiert keine der großen Parlamentsfraktionen, auch keine der großen Interessengruppen außerhalb des Parlaments, sondern lebt einzig von seiner Fähigkeit, Interessengegensätze zwischen den großen Parlamentsfraktionen in seinem Sinne auszunutzen. Die Voten- und Abstimmungsergebnisse im Kongreß der Volksdeputierten sind darüber hinaus eher Verhinderungsmacht, d. h. bestimmte Aspekte des Reformprozesses werden abgewehrt, ohne daß im positiven Sinne alternative Konzepte durchgesetzt werden sollen, die weitgehend auch gar nicht erkennbar sind.
Würde sich der Volkskongreß gegenüber Jelzin durchsetzen, würde dies nicht nur zu einer Beschleunigung des Verfalls der russischen Nation führen. Auch die Außenpolitik würde zumindest rhetorisch – etwa in der Serbien-Frage, in der Frage der Politik gegenüber dem Irak, in der Kurillen-Frage, wahrscheinlich auch im Baltikum – die imperiale Rolle Rußlands, die faktisch vergangen ist, zu imitieren suchen. Und drittens würde noch deutlicher werden, als es dies jetzt schon ist, daß für Krisen wie die derzeitige russische Transformation die westlichen Staaten und Regierungen ohne Konzepte dastehen.
Zwar wird derzeit viel über Wirtschaftshilfe im Sinne von Kreditgewährung, von Transferleistung etc. geredet. Doch ist dies unter den gegenwärtigen Bedingungen in Rußland, aber auch in den anderen Nachfolgestaaten, fast ohne Bedeutung, da kaum sinnvolle Anwendung möglich ist. Zugleich findet keine politische wie auch sicherheitspolitische Einbindung der früheren Sowjetunion in den Westen statt. Auch eine Marktöffnung des Westens für die wenigen konkurrenzfähigen Produkte Osteuropas erfolgt nicht — aus Rücksicht auf innerwestliche Interessen. Kann man also überhaupt helfen? In der Tat haben wir es mit einem extrem widersprüchlichen, langfristigen und außerordentlich schwierigen Transformationsprozeß zu tun. Es handelt sich um Übergangsprobleme einer solchen Größenordnung, die effektiv von außen fast nicht zu beeinflussen sind. Klaus Segbers
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