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■ Zum Gipfeltreffen der GUS-Staaten in MinskBeziehungsneurosen

Ein weiteres Mal werden heute die Häupter der Gemeinschaft unabhängiger Staaten bei ihrem Treffen in Minsk der Welt ein buntes Bukett von Integrationsprojekten präsentieren, deren Verwirklichung allerdings mehr als unsicher ist. Rußland drängt auf die Schaffung eines gemeinsamen Marktes mit der dazugehörigen Zollunion. Nachdem die anderen exsowjetischen Staaten, zuletzt Tadschikistan, sich ihre eigenen Währungseinheiten geschaffen haben, geht der Trend wieder zur Ordnung im Währungschaos. Dafür soll künftig ein zwischenstaatliches Währungskomitee sorgen.

Die russischen Militärs wiederum möchten ihren Einsatz in Abchasien und Tadschikistan sowie die Beteiligung der anderen Mitglieder an diesen – als solche verstandenen – Friedensmissionen neu definieren. Als Buhmann kommt ihnen diesmal die Nato zustatten. Ihre geplante Expansion nach Ost-Mitteleuropa wird in Druck zum militärischen Zusammenschluß umgemünzt. Eng mit der Frage der kollektiven Sicherheit der GUS-Staaten hängt auch das Projekt über die gemeinsame Bewachung der Außengrenzen des Bündnisses zusammen. Hier hat sich in der Vergangenheit Aserbaidschan störrisch gezeigt, das keine Stationierung russischer Grenztruppen auf eigenem Boden wünscht, weil es sie verdächtigt, im eigenen Konflikt mit Armenien nicht ganz unparteiisch zu sein. Auf der Tagesordnung steht außerdem die Unterzeichnung einer gemeinsamen Menschenrechtskonvention. Überhaupt nichts davon hält allerdings die Ukraine, deren Vertreter meinen, schon genügend derartige Dokumente im internationalen Rahmen unterzeichnet zu haben. Aserbaidschan, Weißrußland, Kirgistan und Moldova hätten statt einer Konvention lieber eine etwas weniger verpflichtende „Deklaration“.

Das alles wirkt ziemlich lustlos. Höchsten für Rußland und – neuerdings – auch Weißrußland ist die Idee eines engeren Zusammenschlusses innerhalb der GUS mehr als ein notwendiges Übel. Aber wie ephemer auch die Verträge sein mögen, die diese Staaten aneinander binden, so mächtig ist andererseits die in die Sowjetvergangenheit zurückreichende Wurzel ihrer Gemeinsamkeit. Wenn Eduard Schewardnadse in Minsk nur ganz kurz aufkreuzen will, weil er zu den Feiern des georgischen Unabhängigkeitstages nach Tbilissi zurück muß, so erscheint dies als charakteristisches Detail. Die aufdringliche Betonung der eigenen Unabhängigkeit in den Nach- UdSSR-Staaten hat etwas Kompensatorisches. Tatsächlich strebten die Regierungen auseinander, während das große Land im Bewußtsein seiner Menschen zusammenblieb. Den GUS-Ländern sind die Ereignisse in jedem der exsowjetischen Bruderstaaten noch immer wichtiger, als das Schicksal der gesamten übrigen Welt. Wie Partner in einer neurotischen Beziehung fühlen sie sich umso fester aneinander gebunden, je mehr Unglück sie einander bereiten.

Die Hoffnung russischer Patrioten auf eine Erneuerung des Imperiums wächst in dem Maße, in dem sich in ausnahmslos allen GUS- Staaten ähnliche restaurative Trends durchsetzen. Da bleiben die Marktreformen in dem einen Land mehr, in dem anderen weniger auf halbem Wege stecken. Und überall vollzieht sich die sogenannte „Revanche der Nomenklatura“, die Rückkehr der alten Führer. Gerade die autoritärsten GUS-Regierungen bilden heute gemeinsam mit Rußland das zentrale Molekül eines fester gefügten Systems im nachsowjetischen Raum. Schon gibt es eine russisch- kasachische Zollunion. Rußlands Präsident Jelzin und Weißrußlands Lukaschenko wollen in Minsk eine Vereinbarung über eine engere staatliche Kooperation unterzeichnen. Nachdem Lukaschenko die Presse strikt zensierte und aufmüpfige politische Gegner durch seine Geheimpolizei niederknüppeln ließ, konnte er am 14. Mai ein Referendum abhalten, bei dem sich über 80 Prozent der Bevölkerung für Russisch als zweite Landessprache und eine enge ökonomische Einheit mit Rußland aussprachen.

Allerdings läßt die Wirtschaft des nachsowjetischen Raumes schon nicht mehr zu, daß sich das Rad der Geschichte einfach zurückdreht. Russland kann kaum mehr daran interessiert sein, Milliarden Dollar Subsidien in die ehemaligen Sowjetrepubliken zu pumpen. Und doch schätzen Experten, daß die russische Föderation bis 1994 allein durch die Preisvergünstigungen bei Rohmaterialien und Energielieferungen gegenüber andern exsowjetischen Ländern und durch deren mangelnde Zahlungsdisziplin jährlich zwischen vierzig und fünfundvierzig Milliarden Dollar verloren hat, genau wie zu Zeiten der alten Sowjetunion. Im russisch-ukrainischen Vertragswerk zeichnet sich jetzt ein gangbarer Kompromiß für dieses Problem ab: Nur ein Teil der Schulden wird öffentlich benannt, aber wenigstens für diesen Teil zeichnet der Schuldnerstaat nach internationalen Maßstäben verantwortlich. Rußland wird in Minsk versuchen, dieses Modell zu verallgemeinern. Die einzige Alternative zur Reintegration der Wirtschaft der GUS- Länder bildet die Massenarbeitslosigkeit.

Das durchschnittliche Bruttosozialprodukt der GUS-Staaten ist seit 1991 um 40 Prozent gesunken. Am Beispiel der Kaukasus-Staaten sehen wir schon heute, was eine Fortsetzung der nationalistischen Desintegrationspolitik bedeutete: Entvölkerung der Städte, Verbauerung der Kultur, Naturalwirtschaft und Flüchtlingsströme. Auch ein nichtimperialistisches Rußland wäre angesichts solcher Perspektiven verpflichtet, die Möglichkeiten des Stärksten in dieser geopolitischen Region zu nutzen.

Die oben erwähnten russisch- ukrainischen Verträge bieten als Gegenmaßnahme gegen dieses Chaos-Szenarium die Wiederbelebung der grenzübergreifenden Rüstungskombinate an – eine langfristig ebenso menschenfeindliche und noch umweltfeindlichere Lösung. Ein ähnliches Dilemma herrscht in der Frage der russischen Friedensmissionen. Tatsächlich können vor allem Rußlands östliche Nachbarn den Schutz ihrer Grenzen allein nicht gewährleisten. Überall aber, wo bisher russische Peace-Corps stationiert waren, haben sie ihre positive, konfliktdämpfende Wirkung durch Korruption und Ausschreitungen zunichte gemacht. Vollziehen sich also die Annäherungs- und Entfernungs-Manöver zwischen Rußland und den anderen GUS-Staaten in Wirklichkeit nicht im eurasischen Raum, sondern zwischen Skylla und Charybdis? Einen Ausweg aus dieser Klemme könnte die GUS nur gemeinsam mit einem Rußland finden, das seinerseits zu einer gründlichen wirtschaftlichen Reform bereit ist – und auch zum Abschied von den imperialen Mythen und der damit verbundenen Augenwischerei.

Bevor nicht feststeht, wer in Moskau die Parlaments- und Präsidentenwahlen gewonnen hat, werden deshalb auch keine stabilen Entscheidungen über die Struktur der GUS fallen. Denn der Schlüssel zur Zukunft der Union liegt noch immer in der berühmten „Hand Moskaus“. Barbara Kerneck, Moskau

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