■ Zum Beschluß, das Verfahren gegen Honecker zu eröffnen: Ohne Mut und ohne Risiko
Von Aufarbeitung läßt sich ernsthaft nur reden, wo die eigene Vergangenheit, nicht vorrangig die der anderen, zum Thema wird – eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Erst der Umgang mit der eigenen Verantwortung birgt die Chance, daß aus dem Versuch etwas anderes entspringt als die Saturiertheit retrospektiver Rechthabe. Deshalb ist Aufarbeitung, die den Namen verdient, ohne Risiko nicht zu haben. Erst mit dessen bewußter Inkaufnahme gewinnt das Unterfangen seine Glaubwürdigkeit.
Der südafrikanische ANC hat jüngst ein Beispiel gegeben, wie der Anspruch auf Zukunft mit dem Eingeständnis eigener Schuld nicht dementiert, sondern untermauert wird. Während die Erfolgsaussichten seines Engagements für ein humanes Südafrika weiter prekär erscheinen, entschließt sich die Organisation, die Schattenseiten ihrer eigenen inhumanen Vergangenheit – die Folter politischer Gefangener – offenzulegen. Mit der Gewißheit, daß eine wirkliche Zäsur der schmerzlich-vollen Wahrheit über die Vergangenheit bedarf, nimmt der ANC das Risiko in Kauf, daß der politische Gegner das Schuldeingeständnis als Waffe nutzt.
Die südafrikanische Situation hat mit der deutschen nichts gemein. Allerdings nicht nur deshalb, weil sich Südafrika dem Vergleich mit der deutsch- deutschen Vergangenheit entzieht, sondern leider auch, weil Aufarbeitung hierzulande gänzlich ohne Mut und Risiko auszukommen gedenkt. Der Entschluß zum Honecker-Prozeß ist hierfür das jüngste Beispiel. Der führende Repräsentant des SED-Regimes wird spektakulär zur Verantwortung gezogen, um die ohnehin verblassende Erinnerung an die „deutsch-deutsche Verantwortungsgemeinschaft“ vollends zu verwischen. In der Scheidung von Ankläger und Angeklagtem wird zugleich die Herrschaft der westdeutschen Perspektive auf die gemeinsame Geschichte zelebriert. Man hätte die eigene, die – zweifellos schmeichelhaftere – westdeutsche Seite der Verstrickung offenlegen können. Man hätte – mit der tolerierten Flucht Honeckers – die trübe Sache wenigstens auf sich beruhen lassen können. Doch man hat sich für die offensive Variante entschieden: In Moabit wird Verdrängung inszeniert. Die Erinnerung an die Maueropfer verlangt dem Westen nicht nur nichts ab, im Gegenteil, sie verspricht – Wiederauflage des Kalten Krieges im Gerichtssaal – neuerlichen Legitimationsgewinn.
Merkwürdig anachronistisch wirkt die Nachricht vom bevorstehenden Prozeßbeginn. Während der Monate, die man brauchte, die Anklage zusammenzustellen, hat sich die neue Bundesrepublik verändert. Angestrengt wird demnächst die Unmenschlichkeit der SED-Vergangenheit verhandelt, während die Bundesrepublik gerade darin versagt, auf ihren Straßen und vor den Wohnheimen der neuen Unmenschlichkeit Herr zu werden. Die Bundesrepublik ist ins Trudeln geraten. Während sie an einem todkranken Mann den Rechtsstaat erprobt, gelingt es ihr andernorts schon nicht mehr, ihn durchzusetzen. Auch hier fehlt es der bundesdeutschen Politik, ähnlich wie bei der Vergangenheitsbewältigung, an Mut. Die liberale, rechtsstaatliche Substanz schmilzt. Dieser Prozeß allerdings ist risikoreich. Matthias Geis
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