■ Zum BGH-Urteil im Falle eines Wehrmachtleutnants: Billige Absolution
Eine der zentralen Lebenslügen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, wonach Verbrechen im 2. Weltkrieg von den nazistischen Terrororganisationen begangen, die Wehrmacht aber grosso modo „sauber“ aus ihm hervorgegangen sei, ist für die Ostfront in den letzten zwanzig Jahren durch eine kritisch gewordene Geschichtswissenschaft widerlegt worden. Aber auch für die anderen Länder unter deutscher Besatzung, vor allem die des Mittelmeerraums, sind Kriegsverbrechen der Wehrmacht in großer Zahl bekannt: beispielsweise weit über die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung hinausgehende Geiselnahmen und die anschließende Ermordung dieser Geiseln, unter ihnen Frauen, Kinder und Greise. In aller Regel blieben die Verantwortlichen auch nach 1949 von deutschen Gerichten unbehelligt.
Gestern hat der Bundesgerichtshof (BGH) die Verfolgung eines dieser Täter, des vormaligen Leutnants Wolfgang Lehnigk-Emden, unterbunden. Das Gericht sah die Morde Lehnigk-Emdens an 22 Einwohnern des italienischen Städtchens Caiazzo im Jahre 1943 als erwiesen an, erklärte sie jedoch für verjährt. Straftaten dieser Art, so der BGH, wären von der Militärjustiz geahndet worden, wenn diese von ihnen Kenntnis erhalten hätte. Die Verjährungsfrist gelte deshalb von der Tat, also von 1943 an. Das „Ruhen“ der Verjährung von 1945 bis 1950 eingerechnet, wären damit die Morde 1968 verjährt gewesen – ein Jahr, bevor die Verjährungsfristen für Mord auf 30 Jahre hochgesetzt und 11 Jahre, bevor Mord schließlich für unverjährbar erklärt wurde.
Das Urteil hält gegen alle historische Evidenz daran fest, daß Gerichte der deutschen Wehrmacht bereit und in der Lage gewesen wären, nach irgendeinem rechtsstaatlichen Minimum zu verfahren. Zwar ist der „Führererlaß“ vom 13. Mai 1941, der die Verfolgung von Straftaten der Wehrmacht an der Zivilbevölkerung faktisch unmöglich machte, für das „Unternehmen Barbarossa“, also den Überfall auf die Sowjetunion und für die Behandlung der „slawischen Untermenschen“ gedacht gewesen. Aber die Spruchtätigkeit der Wehrmachtsgerichte in anderen besetzten Ländern, vor allem nach Stalingrad, beweist, daß sich die Richter auch dort an den Willen des „Führers“ hielten.
Nur indem der BGH die Fakten ignoriert, kann er vermeiden, die Verjährung erst mit der Errichtung einer unabhängigen deutschen Justiz, also mit dem Jahr 1950, beginnen zu lassen. Daß bei Straftaten, die unterm Nazismus nicht verfolgt wurden, die Verjährung vom Zeitpunkt der Tat bis zum Stichjahr 1950 ruhen sollte, war in der deutschen Rechtsprechung eigentlich unbestritten. Mehr noch: Das Prinzip der ruhenden Verjährung wurde nach 1990 auch auf nicht verfolgte Straftaten unter dem SED-Regime ausgedehnt. Wird also künftig mit zweierlei Maßstäben gemessen?
Indem der BGH der Militärjustiz in Italien zutraute, im Prinzip Morde an der Zivilbevölkerung zu ahnden, versucht er, den Mythos einer regulären Kriegführung der Wehrmacht und damit auch einer regulären Wehrmachtsjustiz zu retten. Ein anderes deutsches Gericht, das Bundessozialgericht, ist in seiner Entscheidung vom September 1991 etwas weniger leichthändig mit den historischen Fakten umgesprungen. „Die Wehrmacht und ihre Gerichte“, heißt es dort verallgemeinernd, „sollten dazu beitragen, den völkerrechtswidrigen Krieg zu führen“ und „die Justiz war Vollzugsorgan des Maßnahmestaates“ – das heißt, sie war Werkzeug der totalen Kriegführung. Der BGH hingegen hat sich mehr an die Maximen des „schrecklichen Juristen“ Filbinger gehalten. Christian Semler
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