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Zum 100. Todestag Marcel ProustsDie Begierde zu schreiben

Wenn Roland Barthes über Marcel Proust sprach, meinte er oft sich selbst: Die Texte des Semiotikers zeugen von der Hoffnung auf einen Neuanfang.

Roland Barthes 1970 in Paris

Der französische Zeichendeuter Roland Barthes hat von früher Jugend an immer wieder Marcel Proust gelesen, aber nie ein Buch über sein Idol geschrieben. Und doch gibt es entscheidende Texte, Karteikarten, Vorlesungen und Gespräche von Roland Barthes, die Bezug auf Proust nehmen.

Sein französischer Verlag Seuil hat sie vor zwei Jahren publiziert. Bernd Schwibs sowie anfangs auch Horst Brühmann haben sie überzeugend mit präzisen Lesarten von handschriftlichen Karteikarten Barthes’ übersetzt. Pünktlich zum 100. Todestag von Marcel Proust sind sie nun erschienen.

Der französische Untertitel heißt „Mé­langes“. Es sind tatsächlich sehr unterschiedliche Textsorten, die da als Kaffee mit Sahnehäubchen serviert werden. Die Sammlung wird eröffnet mit Artikeln sowie Notizen für eine von Barthes in Rabat gehaltene Vorlesung über Proust, die noch vom Strukturalismus eines Roman Jakobson und seines Mitstreiters wie damaligen Freundes Gilles Deleuze geprägt sind. Da ging es noch um den Signifikanten, um den Klang von Wörtern und Namen.

Angeschlossen ist ein längeres Gespräch, das Roland Barthes 1978 mit einem Radioreporter von France Culture bei einem Rundgang durch das Paris von Proust geführt hat.

Roland Barthes: „Proust. Aufsätze und Notizen“. Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 343 Seiten, 28 Euro

Prousts Viertel

Barthes weiß über jeden Winkel Bescheid, den Proust bewohnt oder als mondäner Snob frequentiert und wo er schließlich sein Werk vollendet hat. Fast alles spielt sich im Umkreis von etwa einem Kilometer ab, hauptsächlich im 8. Arrondissement, dem Viertel, das sich das Pariser Großbürgertum mit Hilfe des „démoliteurs“ Haussmann errichtete. Proust, der dem Viertel selten entkam, hielt es für eines der hässlichsten von Paris.

Barthes zitiert das Urteil und ergänzt: „Es sind, das muss man sagen, äußerst abweisende Häuser, die mir schrecklich feindselig vorkommen, erdrückend, traurig, tieftraurig; sie haben eine Behäbigkeit, einen Konformismus …“. Erstaunt darüber, dass dort ein so „sinnliches Werk“ entstehen konnte, dient Barthes den Hörern des französischen Kultursenders auch noch als Führer durch Illiers-Combray, wo der Erzähler Marcel seine Made­leine-Offenbarung hatte, dann durch den Bois de Boulogne.

Das alles ist amüsant zu lesen, aber das Sahnehäubchen kommt erst noch. Ein Vortrag über die Schreibweise von Proust und Auszüge aus den letzten Vorlesungen von Roland Barthes vor seinem Tod 1980, die ich damals in Paris verfolgen konnte, sowie Karteikarten, auf denen Barthes seine Ideen zu Proust notierte.

In der deutschen Ausgabe fehlen jedoch die Fotos von den Modellen des Romans, die Barthes in einem Seminar präsentieren wollte, das er allerdings nicht mehr halten konnte, weil er am 26. März 1980 an den Folgen eines Unfalls starb. Im Monat zuvor war er vor dem Collège de France beim Überqueren der Straße von einem Auto angefahren worden.

Der Tod der Mütter

Damals sagte die Analytikerin und Semiotikerin Julia Kristeva in ihrem Seminar, dass ihr vertrauter Freund Barthes sich sterben ließ, weil er den Tod seiner Mutter im Jahr 1977 nicht verwinden konnte. Womit wir ins Herz des Proust-Dramas von Roland Barthes stoßen.

Nach dem Tod seiner Mutter las Barthes intensiver und anders als vorher Proust. Getragen von der Vorstellung, dass Marcel Proust nach dem Tod seiner Mutter, 1905, ein neues Leben begann, sein altes mondänes Leben aufgab und statt in die „Salons“ zu gehen, nachts anfing zu schreiben. Zuerst essayistische Notizen und Erzählfragmente, die er unter den Titel „Gegen Sainte-Beuve“ stellte.

Dann aber startete Proust, ab 1909, sein neues Romanprojekt, sein Lebenswerk: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Proust erfand, frei nach Barthes, bestimmte klingende Namen, die Ich-Form seines Erzählers Marcel und noch ein paar Zutaten. Schon konnte es losgehen; „ça prend“, wie Mayonnaise, es dickt an, es nimmt Form an, so der berühmte Vergleich von Barthes.

Barthes identifizierte sich in gewisser Weise mit diesem Erzähler Marcel, getragen von der Begierde zu schreiben, verbunden mit dem Verlust der Mutter. Und hoffte doch – nach seiner Folie von Proust – auf eine Zeitenwende, auf ein „neues Leben“, eine „neue Art zu schreiben“.

Hoffnung auf einen Neuanfang

All das fasste er unter dem Titel „Die Vorbereitung des Romans“ zusammen, unter den er seine letzten Vorlesungen am Collège de France stellte. Auszüge daraus werden zusammen mit ausgewählten Karteikarten, die Proust betreffen, im vorliegenden Band vorgestellt.

Die Texte über Proust zeugen von der Hoffnung Roland Barthes’ auf einen Neuanfang. Im Mittelpunkt steht seine Neuentdeckung eines uralten Gefühls: des Pathos. Ein Pathos, das zu seiner Zeit und bis heute von der Literaturkritik verschrien wird. Das Urteil „Ohne Pathos“ gilt vielmehr geradezu als Auszeichnung. Dabei ist die Floskel so billig wie abgenutzt.

„Eine ganze Moral verachtet und verdammt heutzutage den Ausdruck von Pathos; der Roman, so wie ich ihn begehre, ist genau jene Form, die den Diskurs des Affekts an Figuren delegiert und dadurch gestattet, diesen Affekt auszusprechen. Das Pathetische ist darin sagbar.“ So einen Roman mit Pathos konnte Roland Barthes noch einfordern, schrei­ben konnte er ihn nicht mehr.

Sein Pathos konnte man jedoch als Hörer seiner Vorlesungen sehr gut spüren. Als Leser seiner Schriften kann man es bis heute erfahren. Sein Pathos war keine überbordende Leidenschaft, sondern eher eine Melancholie, die er sanft mit seiner aufgerauten, beruhigenden, irgendwie eine Zigarre assoziierenden Stimme und mit seiner sehr subjektiv gefärbten Schreibweise vermittelte, die zwischen Feuilleton, Wissenschaft und Erzählung sich bewegte.

Sie hat er auch in diese jetzt erschienenen „Aufsätze und Notizen“ über Proust übertragen. Sie vermitteln wahrlich ein Gefühl, das unter die Haut geht.

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