■ ARTUR, BERLINOID: Zug um Zug
Ausgerechnet Hannover hat er sich aussuchen müssen, auch noch im März, wenn die Erde steinhart ist!« sagt Zora, »Hannover ist kein guter Ort zum Sterben.« Sie hatten den Nachtzug um 23 Uhr genommen, würde rechtzeitig zur Beerdigung da sein und am darauffolgenden Abend wieder zurück, so hatte sie sich das vorgenommen. Eine Thermoskanne mit schwarzem Kaffee, das Buch, das sie lange schon hatte lesen wollen — (bloß nicht einschlafen und Hannover verpassen!) — und die Gnade eines leeren Abteils: die Reise durch die Nacht hätte beginnen können, als die Coupétür aufgeschoben wurde und ein kleiner, grauer Mann eintrat, freundlich nickte, sich seines fadenscheinigen Mantels umsichtig entledigte und Zora gegenüber Platz nahm.
Aus seiner beiläufigen Frage: Ach, Sie wollen lesen? entstand dann doch die lange Geschichte eines Lebens »und seit mich meine Frau verlassen hat«, erzählte der schmächtige Mann, »kann ich es nicht mehr aushalten in der Wohnung. Ich muß raus.« Zora schaute ihn verhalten teilnahmsvoll an. »Ich gehe dann zum Bahnhof und kaufe mir eine Rückfahrkarte für die Hälfte der Nacht«, schmunzelte er leise, »morgens bin ich dann wieder in Berlin, hin und zurück mit den Zügen, die gerade abfahren, wohin auch immer.« »Dann haben Sie ja bestimmt schon viele Städte kennengelernt«, meinte Zora unkonzentriert. »Aber nein«, erhob ihr Mitreisender die Stimme, »so gut wie überhaupt nicht! Ich bleibe auf den Bahnhöfen, nur die Bahnhofsmissionen kenne ich gut. Einen Kaffee, einen Teller warmer Suppe oder auch ein Bett für ein paar Stunden, falls ein Zug nicht gleich fährt, bekomme ich immer. Ich reise in die Nächte und in einen neuen Tag nach Berlin.« Nach einer kleinen Pause faßte er Zora ins Auge und fügte schnell hinzu: »Dann und wann treffe ich auf Menschen, die das verstehen.« »Hauptbahnhof, Hannover Hauptbahnhof«, schnarrte die Lautsprecherstimme. Auf dem Bahnsteig drehte sich Zora noch einmal um, sah, wie er den Kragen seines schäbigen Mantels hochschlug, mit einer rührend schüchternen Handbewegung leise einen Abschiedsgruß andeutete und die Treppen hinabstieg.
»Ein Rückfahrschein nach Hannover kostet 94 Mark«, grübelte Zora, »und wieviel Geld gibt man schon mal des Abends für Kino und in der Kneipe aus! Wie kommt man dann zurück?« Lange Zeit später, Zora hatte diese Begegnung, so behauptete sie, schon längst vergessen, mußte sie dringend nach Dessau, doch sie wollte mit Arturs Kraftwagen fahren, keinesfalls mit der Bahn. Artur aber konnte am frühen Morgen schlaftrunken partout die Zulassung nicht finden, auch funktionierte nur auf einem Scheinwerfer das Abblendlicht, und weil in der Fahrertür eine fette Beule war, hätte sie über den Beifahrersitz kriechen müssen. Dann also doch wieder zum Bahnhof Zoo. In der Schlange vorm Schalter steht ein schmaler Mann, schaut ihr mitten ins Gesicht und lacht. Zora sagt, sie sei zuerst irritiert und ärgerlich gewesen, habe dem Menschen fest in die Augen gesehen, dann plötzlich habe sie ihn erkannt, den Nachtfahrer aus dem Zug nach Hannover. »Gibt's denn so was?!« habe sie ausgerufen, und er, mit vorsichtig zur Begrüßung ausgestreckter Hand, habe gelacht: »Doch, doch«, habe er gesagt und eine kleine Verbeugung angedeutet, »so was gibt es!« Clemens Walter
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