: Zu wenig Geld für Kinder in Not
betr.: „Der Tod war schneller als das Amt“, taz nord vom 11.10.2006
Die Entscheidung, ob und wie in dieser Stadt ein Kind oder Jugendliche/r innerhalb der Jugendhilfe versorgt wird, ist schon seit längerem viel zu sehr geprägt von finanziellen Eckwerten und so genannten Zielzahlen. Die Fachlichkeit blieb immer mehr auf der Strecke, die Angst vor „dem ersten toten Kind“ wurde immer größer.
Die politische Entscheidung, in der Jugendhilfe „ambulant vor stationär“ zu steuern, hatte katastrophale Folgen. Natürlich ist die Familie für Kinder und Jugendliche der wichtigste Ort, aber leider ist er nicht immer der richtige. Es hat in der Vergangenheit auch in unserer Einrichtung viele Fälle gegeben, in denen Mädchen in ein Familiensystem zurückwollten, das extrem gestört und auch nicht mehr reparabel war. Diese Jugendlichen gehen zurück aus dem tiefen Bedürfnis heraus doch noch die Zuwendung und Geborgenheit zu bekommen, die ihnen in ihrem bisherigen Leben versagt wurde. Das sind die Kevins und Jessicas, die überlebt haben, die teilweise schwerst traumatisiert sind und denen in unserem Jugendhilfesystem zu wenig, zu spät oder gar nicht geholfen wird.
Was den Verantwortlichen aber auch immer bekannt ist, das sind die teilweise massiven Einwände der Fachkräfte der freien Träger, die mit diesen Familien arbeiten. Diese fachlichen Einschätzungen und Warnungen wurden in den letzten Jahren zunehmend ignoriert und übergangen. Und dies auch aus finanziellen Gesichtspunkten.
SABINE WEBER, Geschäftsführerin Mädchenhaus Bremen e.V.
Das Kind Kevin ist tot. Ihm gehört unsere Trauer und auch Scham darüber, dass so etwas möglich ist. Dafür Verantwortliche – egal an welcher Stelle – werden die Verantwortung mit den entsprechenden Konsequenzen übernehmen müssen. Es gibt aber noch die andere Seite derselben Medaille. Mit unglaublicher Hysterie wird eine ganze Berufsgruppe in der Luft zerrissen. Ein verdächtigter Mitarbeiter wird vor seiner Wohnung belagert. BehördenmitarbeiterInnen werden namentlich öffentlich gebranntmarkt, obwohl es mehr Fragen als sichere Antworten gibt.
Die KollegInnen im Ambulanten Sozialdienst Junge Menschen – übrigens nicht nur da! – arbeiten unter ungeheurem Druck. Fast jede/r KollegIn hat mehrere vergleichbar schwere Betreuungsfälle wie den von Kevin. Vor ca. zehn Jahren waren ungefähr 200 (!) SozialarbeiterInnen für Kinder und Jugendliche und deren Familien im Amt zuständig, heute sind es noch knapp 120. Die Budgetrahmen werden nicht von den MitarbeiterInnen im Amt, sondern auf politischen Ebenen entschieden. Die JugendamtsmitarbeiterInnen müssen die Vorgaben unter großem Druck und mit viel bürokratischem Aufwand einhalten. CHRISTIANE RENZELMANN, WOLFGANG KLAMAND, Personalrat beim Amt für Soziale Dienste, Bremen
Der kleine Kevin ist nicht zuletzt Opfer einer Lebenslüge der Bremer Jugendhilfepolitik geworden. Die Lebenslüge der vergangenen Jahre hieß: Budgets für Jugendhilfe-Maßnahmen und -Personal lassen sich stetig weiter absenken, ohne dass dies zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen und deren Familien gereicht.
Das Sparen in der Jugendhilfe verband sich stets mit Organisations-„Reformen“, Personalabbau, Privatisierungen und Veränderungen der Regelwerke (=fachliche Weisungen). Die „Neujustierung“ nach primär fiskalischen Vorgaben wurde in der Regel als fachlicher Fortschritt ausgegeben. Bis auf wenige Ausnahmen haben sich die Leitungskräfte im Jugend-Ressort und im Amt für soziale Dienste (=Jugendamt) diesen verfälschenden Sprachregelungen angepasst oder sie sich zu eigen gemacht.
Jugendamtsleiter Jürgen Hartwig hat all diese Reformen mit Ehrgeiz und Vehemenz vorangetrieben, um – als ehemaliger Referent im Finanzressort – unter Beweis zu stellen, dass man Sparvorgaben des Senats auch im Jugendbereich organisatorisch auf stramme Weise exekutieren könne. GERHARD TERSTEEGEN, Bremen
Aufgrund steigender Fallzahlen sind in den letzten Jahren die Kosten für Heimunterbringung oder Inobhutnahme durch eine Pflegefamilie in den Kommunen rasant angestiegen. Es ist kein Geheimnis, dass intern die finanzpolitische Vorgabe existiert, diese Kosten zu senken und im Rahmen der so genannten Fallkonferenzen auf Verbleib der gefährdeten Kinder in den Ursprungsfamilien hingewirkt wird. Deshalb steht an allerletzter Stelle der Schutzaspekt mit Inobhutnahme. Zuvor versucht die Jugendhilfe die Familie zu stabilisieren, ein unterstützendes Umfeld zu organisieren, Bildungs- und Lernangebote zu entwickeln, ortsnahe Hilfe anzubieten.
Ergänzend ist anzumerken, dass es durchweg politischer Wille der meisten Kommunalfraktionen ist, die Jugendhilfekosten aufgrund der hohen Sozialhaushaltdefizite zu begrenzen bzw. zu senken. Deshalb sind die aktuellen politischen Äußerungen zum Thema nichts anderes als scheinheilige Krokodilstränen. PETER HARTUNG, Nidda