: Zu viel! Mehr davon!
Viel Platz für Konfusionen: Neal Stephenson führt im zweiten Band seines Barockzyklus einmal um die ganze Welt. Das liest man gern – wenn er bisweilen auch arg rasch zwischen Adelsklatsch und Kryptografie hin und her springt
VON MAIK SÖHLER
Diesmal, in „Confusion“, sind es 1024 Seiten. Beim letzten Mal, in „Quicksilver“ waren es 1152 Seiten. Und noch einmal weit über tausend Seiten sind für den dritten Band, „The System of the World“, zu erwarten. Nein, unter Schreibhemmungen scheint der US-amerikanische Schriftsteller und ehemalige Cyberpunk Neal Stephenson nicht zu leiden. Nein, auch Themenmangel dürfte ihm unbekannt sein. Und noch mal nein, Vielschreiberei muss nicht unbedingt auf Kosten der literarischen Qualität gehen. Im Gegenteil: Hätte „Confusion“ 500 Seiten mehr, dann hätte man auch 500 Seiten mehr Vergnügen.
Denn genau das bereitet Stephensons neuer Roman: höchstes Lesevergnügen. Das liegt ganz einfach daran, dass der Autor in den Gattungen Abenteuer-, Schelmen-, Bildungs- und Reiseroman manisch, aber durchaus überlegt herumwildert, sich überall das Beste aneignet, es mit reichlich Geschichte und Wissenschaft anreichert und daraus etwas ganz Eigenes macht. „Confusion“ ist ein literarisches Geschichtsbuch, es mischt Karl May mit Karl Marx, und am Ende des Buches weiß man auch noch, wie der moderne Welthandel entstanden ist.
Im Zentrum des Romans stehen zwei Figuren, die man bereits aus „Quicksilver“ kennt: der liebenswerte englische Vagabund Jack Shaftoe und die nicht weniger liebenswürdige Gräfin Eliza. Shaftoe und Eliza verbindet vieles – gemeinsame Freunde und Feinde, die Kunst des feinsinnigen Komplotteschmiedens, die Welt der Piraterie, ihr Dasein als Underdogs –, vor allem aber ihr Drang, möglichst reich zu werden. Eliza hat Jack dabei einiges voraus, als Gräfin de la Zeur ist sie an den Adelshöfen Frankreichs, Englands und in den deutschen Landen etabliert, wenn auch nicht immer gerngesehen. Jack hingegen muss sich erst mal aus seiner Gefangenschaft als Galeerensklave des Osmanischen Reiches befreien.
Beeindruckend spielt Stephenson alle nur denkbaren Möglichkeiten durch, wie man im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert zu Geld kommen und es wieder verlieren konnte. Jack intrigiert mit diesem und jenem und kapert mit seinen Galeerenkumpels einen spanischen Goldtransport zur See, während Eliza von Freibeutern um ihren Besitz erleichtert wird. Die Mittellosigkeit zwingt sie zu gründlichem Nachdenken, was sie in der Folge zu einer nicht nur wohlhabenden, sondern auch mächtigen Frau machen wird. Jack hat unterdessen einen Großteil des Goldes vor der Küste Indiens wieder verloren. Bevor er die Erde per Schiff umfahren wird, sinnt er ebenso gründlich über neue Mittel zum Gelderwerb nach.
Die Umstände dafür sind günstig, die Menschheit erlebt einen Umbruch der Weltwirtschaft. Das spanische Königreich hat durch seine Landnahmen auf dem amerikanischen Kontinent den Gold- und Silberhandel so gut wie monopolisiert. Die anderen europäischen Mächte müssen mangels Münzen neue Zahlungsweisen einführen: Aus komplizierten Systemen mit Schuldverschreibungen, Kontobüchern, Krediten und Wechseln erwachsen langsam das moderne Papiergeld und die Staatsbanken. Gleichzeitig segeln immer mehr und immer größere Schiffe um die Welt und verbreiten den Handel bzw. das, was die Europäer darunter verstehen, noch in den hintersten Ecken des Planeten. Kurz: Es sind die Geburtsjahre des globalen Welthandels, und durch die Augen Jacks und Elizas erleben wir sie anschaulich mit.
Wie bereits in „Quicksilver“ verliert Stephenson trotz des weiten Blicks aufs große Ganze auch die Genauigkeit beim Kleinteiligen nicht. Detailversessen und leidenschaftlich wendet er sich wissenschaftlichen Entdeckungen, dem indischen Kastensystem, Adelsklatsch, der Kryptografie, medizinischen Problemen oder religiösen Disputen zu. Seine Protagonisten und ihre Freunde müssen sich den üblichen europäischen Kriegen stellen, mittelalterliche Handelstraditionen Japans studieren, gegen den Sklavenhandel angehen und im Gelehrtenstreit zwischen Newton und Leibniz Position beziehen.
Eigentlich ist das alles natürlich viel zu viel. Man denkt gerade noch darüber nach, wie es passieren konnte, dass aus Spanien trotz des ganzen Goldes am Ende keine Weltmacht wurde, und schon buhlen arabische Nahkampftechniken oder Probleme des irischen Landrechtes um Aufmerksamkeit. Zu viel, denkt man, zu konfus, mehr davon! Und Stephenson liefert mehr, und das offensichtlich mit großem Spaß. Zum Glück und zu Recht räumt er sich für die Ausbreitung, Entwicklung und Neuordnung der Konfusion der Welt viel Platz ein.
Wer sich nach dem ersten Band gefragt hat, ob die literarische Welt wirklich mehr als 3.000 Seiten Prosa über den Barock braucht, kann diese Frage nach der Lektüre des zweiten Bandes ganz einfach mit Ja beantworten. Stephenson wird immer besser.
Neal Stephenson: „Confusion“. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl und Juliane Gräbener-Müller. Manhattan Verlag, München 2006, 1024 Seiten, 29,95 Euro