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Archiv-Artikel

Zu viel Kindheitsmythos

BURLESK Das US-Zwillingsschwesternduo Coco Rosie spielt erstmals im Admiralspalast – und wäre wohl doch besser auf einer Hüpfburg aufgetreten

Sierra trägt einen roten Rüschenmantel, Schwester Bianca eine Admiralsjacke

Die Erwartungen könnten kaum höher sein an den Konzertabend mit dem Schwestern-Duo Coco Rosie. Seit Wochen schon sind die immerhin 1.700 Karten restlos ausverkauft und eine Stunde vor Konzertbeginn gibt es noch jede Menge Leute, die darauf hoffen, noch eine direkt vor dem Admiralspalast ergattern zu können.

Wer es schafft, kann sein Glück kaum fassen – die angesteckte Feder wackelt freudig auf dem Kopf hin und her. Die Scharen sind augenscheinlich nicht nur Fans der experimentellen Popmusik, sondern auch der gewagten Aufmachung der Casady-Schwestern. „Verspielt“ – könnte man es nennen.

Sie selbst erklären ihre Verkleidungen und aufgemalten Schnurrbärte gerne mit dem Verweis auf Rollenspiele, denen sie durch ihre Stimmen Leben verleihen. Man darf also zu Recht gespannt sein. Zunächst aber betritt eine stimmgewaltige Vorband die Bühne, musikalisch basierend auf Synthie und Drums erweckt das Duo Assoziationen mit der Endachtziger Band Erasure, vom Stimmen- und Körpervolumen der Sängerin mit Yazoo und Gossip – dazu eine Portion Undergroundfaktor à la Berghain – das kam ziemlich gut an.

Leider wusste keiner den Namen dieser Band. Des Rätsels Lösung fand sich erst kurz vor dem Ausgang, wo die Band neben den lustig-bunten Coco-Rosie-T-Shirts auch ihre düster-schwarzen Shirts und CDs mit der Aufschrift „Light Asylum“ an viele neue Fans verkaufte.

Der Auftritt von Coco Rosie ist dann erstaunlich unspektakulär. Auf eine eindrucksvolle Fantasy-Show, mit Kostümwechseln oder skurrilen Instrumenten wartet das Publikum bis zum Schluss vergebens. Die dunkelhaarige der beiden, Sierra, tritt in einem roten Rüschenmantel auf, der an den des Weihnachtsmanns erinnert. Leider gibt’s dazu pinke Socken. Schwester Bianca trägt eine Admiralsjacke und spielt Blockflöte. Im Schlepptau haben die beiden noch einen Beatboxer, einen Trommler und einen Pianisten. Die Harfe bedient Sierra zuweilen selbst, meistens wenn ihre Schwester singt.

Biancas Stimme klingt so durchdringend, als hätte man einer Katze auf den Schwanz getreten – ein bisschen wie Macy Gray, allerdings ohne Rauch. Ihre und Sierras geschulte Opernstimme wechseln sich liedweise ab, dazu laufen sie ein bisschen ziellos auf der Bühne auf und ab und schwingen die Arme elfentanzartig oder ein bisschen so, als wollten sie sich beschweren: „Wenn der Topf aber nun ein Loch hat?“

Eine überzeugende Bühnenshow sieht anders aus. Aber als Soundtrack für das eigene Leben oder zumindest diesen Abend durchaus geeignet, scheint sich das Publikum zu denken. Die Stimmung ähnelt der auf der Berliner Fashion Week: Alle sind aufgebrezelt und in froher Erwartung. Aber irgendwie passiert nicht so richtig was, weswegen die Aufmerksamkeit nachlässt – dafür stimmt die Musik. Die befindet sich irgendwo zwischen Dresden Dolls, Nouvelle Vague, Portishead und Cat Power. Viel wichtiger scheint beim Konzept von Coco Rosie aber die erfolgreiche Selbstvermarktung zu sein. Kein Wunder also, dass Coco Rosies Musik bereits für die Prada-Modenschau genutzt wurde. Im Hintergrund läuft derweil eine Endlosschleife von Projektionen: ein Kettenkarussell, brennende Kerze, Blumenwiese, Wellen am Sandstrand, Bambi, ein Clown, ein Schimmel, chinesisches Baby und große blaue Kinderaugen.

Was das alles mit der Band oder den Liedern zu tun hat – das sollte mal jemand vertonen und als Video auf Youtube veröffentlichen. Das Problem mit den beiden Endzwanzigern an diesem Abend: Entschieden zu viel Kindheitsmythos wird hier inszeniert. Handklatschspielchen, Rumgehüpfe, schwesterliches Knuddeln – wer davon keine Überdosis bekommt, ist diesbezüglich schmerzbefreit.

Spätestens als man in den nächtlichen eiskalten Mairegen hinaustreten muss, schmilzt der Zuckergussmantel der Besucher. Was bleibt, ist die Desillusionierung und der Gedanke an den jüngsten Albumtitel von Coco Rosie: „Grey Oceans“.

JULIA NIEMANN