: Zu schön, um wahr zu sein
Um die Täuschung wissen, ist gut, aber Desillusion macht echt sauer: In Mark Romaneks Psychothriller „One Hour Photo“ sucht Robin Williams als grausam einsamer Mann in den Fotografien von Fremden nach familiärer Geborgenheit
von CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK
Die Nahrung des Psychothrillers ist der Wahn. Etwas Schlimmes ist geschehen – was diesen Punkt angeht, spannt One Hour Photo seine Zuschauer gar nicht erst groß auf die Folter. Denn der Film beginnt genregemäß mit einem Polizeiverhör. Die folgende eineinhalbstündige Rückblende begleitet die ruhige Erzählstimme Robin Williams‘ aus dem Off, und auch deshalb ist schon nach ein paar Minuten klar: One Hour Photo handelt von einem sehr aufgeklärten Wahn.
Denn Williams bringt von Beginn an nicht nur mit dem Gesicht des Guten, das zahllose seiner früheren Rollen geprägt haben, die Hauptfigur dieses Films zum Schillern. Ihm ist auch wie so oft die uneingelöste Vernunft der US-amerikanischen Gesellschaft auf den Leib geschrieben. Und so erzählt er uns hier als Seymour „Sy“ Parrish, dass Bilder nie die ganze Wahrheit verraten: „Niemand nimmt Fotos auf von etwas, das er lieber vergessen würde.“ Dieses Wissen hält ihn allerdings nicht davon ab, ihrem schönen Schein zu erliegen. Nach der Wahrheit von Fotos forschten vielleicht die Filmhelden der 60er, in Peeping Tom oder in Blow Up. Heute sucht ein vereinsamter Mann in standardisierten Abzügen nach der Illusion, nach dem Schein von einem besseren Leben.
Eine ganze Welt baut sich Sy, der wie jüngst der Mörder in Roter Drache in einem Fotolabor angestellt ist, aus den Bildern seiner Kunden zusammen. Die idealisierten Dokumente des Familienlebens der Yorkins zieht er für eine Collage an seiner Wohnzimmerwand immer gleich mehrere Male ab. Stunden seines Tages verbringt er über den Fotos der drei, deren Leben er seit der Geburt des Sohnes Jacob vor neun Jahren in seinen Phantasien als Onkel begleitet. Immer häufiger stellt er der Familie in seinem Auto nach, fängt den Jungen beim Fußballtraining ab, um ihn heimlich zu beschenken: Sy wird der Stalker der Musterfamilie. Doch als ihm durch eine andere Kundin Zeugnisse einer Liebesaffäre von Will Yorkin unter die Augen kommen, implodiert das prekäre Gemisch aus Realitätssinn und Illusion.
Abgesehen von dem durchgeknallten Indie-Film Static aus dem Jahr 1985 ist One Hour Photo Mark Romaneks erster Spielfilm. Bekannt – und mit Preisen überschüttet – wurde er als Regisseur von Musikvideos für Madonna oder die Nine Inch Nails. Aber auch zahlreiche Werbefilme, etwa für Nike oder Calvin Klein, gehen auf sein Konto. Mit einem Großteil seines Teams (unter anderem Fight Club-Kameramann Jeff Croneneth) hat Romanek bereits früher zusammengearbeitet. Und diese Gruppe von Spezialisten für schönen Schein bebildert nicht das Thema, zu dem Romanek auch das Drehbuch schrieb, sie entwirft es geradezu. Angesiedelt ist der OneHourPhoto-Shop, in dem Sy arbeitet, in einem Riesen-Supermarkt, SavMart genannt. Und diesem Ort, an dem sich ein umfassendes Angebot an Lebensmitteln, Kleidung und kompletten Wohnungseinrichtungen findet, an dem es sich musterhaft leben ließe, an dem sich Öffentlichkeit und Privatheit bis zur Unkenntlichkeit überkreuzen, hat ein kluges Produktionsdesign jede Farbe genommen und alles in gleißendes Licht getaucht. Verschüchtert wie ein ungebetener Gast setzt sich der farblos gekleidete Sy dort einmal in eine Zimmereinrichtung. Wir wissen, sie ist ein Fetisch für ihn, doch wir sehen bloß abstoßende Oberfläche.
Eine Traumsequenz zeigt Robin Williams verloren zwischen vollkommen leer geräumten Regalen. Nichts, worauf sich Blick und Begehren noch richten könnten. Und plötzlich schießt überraschend rot eine Blutfontäne aus Sys Augen. Rasierklingen, die dem Voyeurismus ein Ende setzen: Das war einmal. Zwar funktioniert die Warenökonomie noch immer über das Auge, steuern beim Anblick von Objekten die auf sie projizierten Wünsche das Kaufbegehren. Aber heute bricht das Reale nicht mehr von außen gewaltsam ein. Wenn an diesem Außen nichts wahr, sondern alles Illusion ist, kann das Reale nur noch ausbrechen: aus den enttäuschten Subjekten selbst. So jedenfalls das Statement von One Hour Photo. Für den schwachen Schluss des Films, wenn Sys Verzweiflung sich in Gewalt entlädt, entschädigt es doppelt und dreifach.
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