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Archiv-Artikel

Zu fett, zu laut, zu groß

Die ehemalige Sozialpädagogik-studentin Sabine Joks wünscht sich, was die Wahrsagerin Ines Tabu weiß: Alles wird gut

VON THOMAS FEIX

Sabine Joks sitzt im Sessel, vorm geheizten Kachelofen, und sagt, dass Aaron da ist und dass sie ihn liebt. Sie hat ihn gemalt. Schwarze Locken, Bärtchen, große runde Augen, Zylinder auf dem Kopf. Eine schlanke Gestalt, dem Betrachter zugewandt, und halb hinter ihr stehend, hat sie sich selbst gemalt. Rot. Das Kleid, das Gesicht, die Schleife im Haar, alles rot. Sie sieht Aaron jeden Tag. Sie kennt ihn. Kennt ihn so, wie sie ihn gemalt hat. Sie sagt, das Haus in der Rosenthaler Straße, in dem sie wohnt, es gehörte ihm. Sie sagt, eines Tages verschwand er, er war Jude, er kam ins KZ, und das Haus wurde arisiert. Sie weiß es nicht. Sie hat es erzählen hören. Sie weiß nicht einmal, ob er Aaron hieß. Aber als sie ihn malte, in Gehrock und Schaftstiefeln, fiel ihr der Name ein. Er ist überall dort, wo sie ist.

Sie braucht seine Nähe. Sie braucht Aaron, wenn die Einsamkeit da ist. Sie braucht ihn immer. Sie hat Angst vor dem, was sie Menschengeschichten nennt. Sie begegnen ihr, wenn die Leute kommen. Zu ihrem Platz, jeden Tag, Berlin-Charlottenburg, Wilmersdorfer Straße, zwischen Woolworth und Ratschiller. Leute, die selber Angst haben, vor Krankheit, Armut, Tod, vor der Einsamkeit: Sabine sagt ihnen das Gute vorher. Am Abend danach malt sie. Zerfurchte Gesichter, erstarrte Mienen, Blicke, die trostlos sind. Bäume ohne Grün. Sie malt mit Acrylfarben. Zum Schluss zieht sie die Konturen nach, schwarz, mit Filzstift. Ich mal mich raus, sagt sie. Raus aus der Angst. Sie muss es tun.

Frau Joks, hatte der Doktor von der Psychiatrie zu ihr gesagt. Sie haben einen Tick, Sie haben was zu laufen. Sie fühlt sich isoliert. Abgelehnt. Fühlt sich eins mit den Opfern, mit allen Opfern. Das ist es. Sie weiß es, auch ohne Doktor. Sie sagt, ihr Großvater war Soldat in Russland. Der ist kein Opfer, Schande. Sie sagt, dass sie zu laut ist, zu dick, zu groß, nicht zu übersehen, riesig. Fast einsneunzig, Schuhgröße 45, Brustumfang 92, Gewicht 130. Es ist die Einsamkeit. Und das Gefühl, das von der Einsamkeit kommt. Sie zeigt die Bilder, die sie malt, und die Bilder zeigen, wie sie sich fühlt. Abgelehnt. Isoliert. Ein Opfer. Sie isst zu viel, zu fett, zu süß. Sie frisst. Sie sorgt sich um Leber und Nieren. Die Gallenblase ist schon raus. Ihre Schokoladenorgien nennt sie „sich was Gutes tun“. Naschen ist Leben, sagt sie.

Die Frau vom Sozialamt hatte sie zum SPD geschickt, zum Sozialpsychiatrischen Dienst, zur Untersuchung. Eine Macke, eine Art Paranoia, hatte der Doktor gesagt. Nichts Großes. Aber es reichte. Jetzt, mit 50, kriegt Sabine Geld vom Sozialamt. Sie geht zur Therapie, immer montags. Danach heult sie den ganzen Dienstag über. Im Augenblick braucht sie eine neue Wohnungstür. Dringend. Die alte kommt ihr nicht sicher vor. Wenn sie in der Wilmersdorfer Straße ist, sagt sie, und aus den Karten liest, kommen Männer in die Wohnung. Obwohl sie keinen Schlüssel haben. Bevor Sabine morgens aus dem Haus geht, schreibt sie ihnen Botschaften an die Innenseite der Wohnungstür. Ist sie abends wieder da, schiebt sie den Kühlschrank vor die Tür, als Barrikade. Sie sind in ihrem Kopf, sie nennt Namen, Männervornamen. Keine besonderen, Peter, Bernd, Heinz.

Sie fühlt sich verfolgt. Manchmal von den Namen. Manchmal von Institutionen. Von religiösen Gruppen, politischen Parteien, vom Establishment. Ich bin ein Opfer von Gewalt, sagt sie. Ich werde gestalkt. Sie sagt es mehrmals. Immer wieder, und dann überschlägt sich ihre Stimme. Es ist so weit. Nichts geht mehr.

Sabine steht unter Betreuung, finanziell, logistisch, organisatorisch. Sie hat Sozialpädagogik studiert, dreizehn Semester lang, in Hannover. Sie wollte Menschen helfen, die sich selber nicht helfen können. Aber, sagt sie, dieses Gutmenschengetue hat sie verrückt gemacht. Sie hielt den Druck nicht mehr aus. Den Druck, den Schein des Übermenschlichen zu wahren. Jetzt ist sie selbst jemand, dem geholfen werden muss. Ich habe den Paragrafen, sagt sie. Besser als nichts. Sie sagt, es ist außerdem ihre Sexualität. Sie kann sie nicht mehr ausleben. Früher hatte sie viele Männer, zu viele. Zu viele in zu wenig Jahren. Sie nennt Zahlen, greift weiter aus, dann ist sie für einen Moment still. Vor neun Jahren hatte sie den letzten Mann. Sie mag Männer. Männer aus dem Süden, Nonchalance und Rhythmus, rassige Männer, dunkelhäutig, mit tiefem, heiserem Klang in der Stimme, Sie sagt, sie würde gern wieder mal, aber es geht nicht, die Gebärmutter ist auch raus, es wäre ihr zu peinlich. Sie sagt, alle sagen, ich bin hässlich wie die Nacht. Ich kriege immer Körbe.

Nichts als Paranoia? Sabine stammt aus einem Dorf bei Hannover. War das mittlere von fünf Kindern, zwei jüngere Schwestern, zwei ältere Brüder. Christliches Elternhaus, evangelisch-lutherisch, bürgerlich-konservativ. Ein Onkel ist Pfarrer, einer ihrer Brüder Theologe. Mit vier war sie über 1,20 Meter groß. Knochig, spindeldürr, und später in der Schule war sie größer als alle Jungen in der Klasse. Verlacht, verprügelt, ausgestoßen, keiner wollte was mit ihr zu tun haben, Opfer. Als sie in die Pubertät kam, änderte sich das. Einen Riesenbusen kriegte sie, schon mit dreizehn hatte sie ihn. Sie spürte die Macht, die sie über die Jungen hatte. Sie hatte Spaß an der Macht, daran, mit den Jungen zu spielen. Sie dachte, es würde ewig so gehen.

Unten am Hauseingang ein Schild, Ines Tabu, Wahrsagerin. Ines Tabu, Sabines Pseudonym. Inzesttabu. Sabine hatte darüber gelesen, fand das Wort gut und hat ihren Künstlernamen daraus gemacht. Unberührbar, so sieht sie sich. Sie sagt, sie wird bedrängt, von Männern, zehn Angebote die Woche. Alles Nachbarinnenficker. Ihre Stimme ist kurz davor, sich zu überschlagen. Gleich ist es so weit. Gleich wird nichts mehr gehen. Ines Tabu. Nach nichts sehnt sie sich so sehr als nach Berührung.

Ich bin die Wahrsagerin der kleinen Leute. Sabine sitzt im Sessel, der Ofen scheint zu glühen. Das T-Shirt hochgerutscht, die Jogginghose zu tief, und wenn Sabine „Ich“ sagt, klatscht sie sich auf den nackten Bauch. 200 Leuten im Monat lege ich die Karten. Ich fange ihre Sorgen auf, ihre Nöte. Therapeutische Arbeit, Sozialarbeit. Spiritueller Dienst. Fast nur Frauen. Sie kommen mit dem, was sie bewegt, mit sehr Intimem. Manchmal ist es auch das große Geld, das sie bewegt.

Menschengeschichten. Ältere Frauen kommen und ganz junge. Sabine hört zu, legt die Karten. Dann sagt sie das vorher, von dem die Frauen wollen, dass es in Erfüllung geht. Es ist nichts Besonderes daran, das Gute vorherzusagen. Aber es ist wichtig, dass es jemand tut. Bei denjenigen, die niemanden haben, dem sie sich anvertrauen können. Selbst wenn sie einen Partner haben. Vielleicht gerade dann.

Es sind solche Geschichten, Rosemarie, 96 Jahre alt. Klein, schmal, straffe Frisur, vorsichtige Schritte. Rosemarie war 64, als sie einen Mann kennen lernte, der 38 war. Sie hatte keinen mehr gehabt, seit ihr Mann, er war jüdischer Abstammung, 1943 an einem Nachmittag runter in die Apotheke gewollt hatte und nicht wiedergekommen war. Mit dem neuen Mann ist Rosemarie über dreißig Jahre lang zusammengewesen. Neulich hatte er gesagt, Röschen, es geht nicht mehr, nicht einmal mehr mit Gleitmittel. Siehst du, hatte er gesagt, wir müssen uns trennen. Rosemarie weiß nicht, was sie machen soll. Sie hofft, dass es wieder gehen wird. Sie kommt zu Ines und hört, dass es gehen wird, natürlich. Zweimal jede Woche will sie es hören. Sie hofft weiter und beschwört ihre Liebe.

Dann die junge Hübsche, die vor fünf Monaten geheiratet hat. Ines hatte ihr eine glückliche Ehe vorhergesagt. Jetzt ist sie wieder da gewesen. Mein Mann rührt mich nicht mehr an, hat sie gesagt. Er verbringt die Nächte vor dem Computer. Warte, hat Ines gesagt, bald wird alles wieder gut sein, bestens. Dann Doktor Sami, der afghanische Arzt. Er hatte keine Zulassung, und seine Aufenthaltsgenehmigung war abgelaufen, er arbeitete illegal in einem Berliner Krankenhaus. Von Ines wollte er wissen, ob er eine Zukunft in Deutschland hat. Ja, sagte Ines jedes Mal. Bis er eines Tages nicht mehr kam.

Es sind solche Geschichten, die Sabine Angst machen. Nicht die großen, nicht die aus den Zeitungen. Die kleinen, alltäglichen, die verborgenen, die, die sie zu hören kriegt, sind es, deretwegen sie abends die Bilder malt. Weil die Geschichten unausweichlich sind, unerbittlich, schicksalhaft. Auch an den Weihnachtsfeiertagen ist sie da, die sind besonders wichtig. Da ist die Angst, die Hoffnung am größten. Da wird Sabine am meisten gebraucht. Dann kommen sie. Die, die an Heiligabend allein waren. Und Sabine ist da, auch bei Eis und Schnee, egal.

Sie hat fast alles durch. Von allen Sachen, die einem passieren können, hat sie fast alle durch. Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung. Sie kann zuhören. Dass sie die Karten legt, ist Kalkül, nicht Berufung. Kein Arbeitgeber, sagt sie, würde mich nehmen. Und wenn doch, dann würden die Kollegen mich auslachen und mobben. Rausekeln würden sie mich. Mit dem Kartenlegen behält sie den Kontakt zu Menschen, zum Leben. Sabine Joks geht früh schlafen. Kein Radio, keinen Fernseher. Keinen Festnetzanschluss, kein Mobiltelefon, keine Mailadresse. Kein Namensschild am Klingelbrett. Sabine sagt, Aaron, ja. Ich bin dazu da, um andere zu trösten. Aber wer tröstet mich?

THOMAS FEIX, Jahrgang 1960, lebt als freier Autor in Berlin