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■ Zu den Gerüchten um das Siechtum Präsident Boris JelzinsKrieg als Mittel im Diadochenkampf

Kaum irgendwo anders wäre ein so hinfälliger Politiker wie der russische Präsident Boris Jelzin überhaupt zur Wahl aufgestellt worden. Es war klar, daß er seine nächste Amtsperiode lebend nicht überstehen würde. Nicht so offenkundig war, wie bald sein Siechtum akut werden und wie aufregend es sein würde. Gerüchte behaupten abwechselnd eine Leberzirrhose oder eine Herzkrise. Beides ist nicht unwahrscheinlich. Die Kremlsprecher spotten wie immer über die Gerüchte und behaupten, Jelzin sei gesund. Er inspiziere nur die Wanderwege in seinem Urlaubsquartier.

Da für heute nur die abschließende Vernichtung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny vorgesehen ist, liegt ja auch weiter nichts an: Ferienstimmung. Und es wäre auch ein Leichtes, Jelzin zum Maskenbildner zu bringen und ihn dann energisch in die Fernsehkameras sprechen zu lassen. Nicht einmal das ist offenbar mehr möglich.

Der Diadochenkampf, der nun ausgebrochen ist, nimmt offenbar einen Verlauf, der einst für orientalische Despoten üblich war: Anders als sogar unter den Zaren gibt es keine Nachfolgeregelungen – zumal der sterbende Herrscher auch keinen Nachfolger festgesetzt hat. Wie im alten Orient müssen nun auch in Rußland die Machterben so lange gegeneinander kämpfen, bis einer von ihnen übrigbleibt. Aber wer könnte es sein? Sicherheitschef Lebed scheint sich gegen Innenminister Kulikow nicht durchsetzen zu können. Kulikow ist ein Fuchs, aber wahrscheinlich nur solange Jelzins schützender Arm nicht erschlafft ist. Tschernomyrdin hat sich auch nicht beiseite schieben lassen und könnte versucht sein, die Zügel in die Hand zu nehmen. Nach anderen Gerüchten liegen diese Zügel schon in der Hand von Tschubais, aber der gilt als ein bißchen zu liberal.

Daß Jelzin die Macht offenbar entgleitet und eine Phase der Kämpfe um die Nachfolge einsetzt, wäre schlimm genug. Aber es geht auch um den Krieg in Tschetschenien und um die Menschen, die dort von der russischen Armee abgeschlachtet werden sollen. Das Entsetzliche erscheint in Moskau nur als Teil eines Kampfs, in dem es um Wichtigeres geht: um Titel und Tantiemen. Der Vernunft scheint ihre List abhanden gekommen zu sein. Erhard Stölting

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