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Archiv-Artikel

Zu den Fotos in dieser Beilage

Von AVG

Ein Hauch von Empire hängt in der Luft. Indische Mädchen in Spitzenröcken stehen auf blankgewienerten Fußböden. Ihre Füße stecken in Rüschensocken, ihre Hände ruhen würdevoll auf der ebenhölzernen Lehne eines Sessels, der schon lange am selben Ort steht. Im Hintergrund der angloindischen Settings hängen die Gemälde ihrer Vorfahren an der Wand. Die Mädchen wissen um ihre Wurzeln: Sie blicken mit der selben Zurückhaltung wie ihre Ahnen.

Auch die indische Fotografin Dayanita Singh ist eine Tochter aus gutem Haus. In ihrem Fotoband „Privacy“, dem die Bilder für diese Beilage entnommen ist (Steidl Verlag, Göttingen), porträtiert sie die Welt, der sie selbst entstammt. Die heute 45-Jährige erkämpfte sich von ihrem Vater, dass sie das National Institute of Desing in Delhi besuchen durfte, das damals manche das „Soho von Indien“ nannten. Nach dem Tod ihres Vaters sagte sie ihrer Mutter, sie wolle am International International Centre of Photography in New York studieren und dafür auf ihre Mitgift verzichten. Die Mutter willigte ein. Nach dem Studium kehrte Singh in ihre Heimat zurück und dokumentierte fortan das soziale Elend indischer Großstädte – immer im Bewusstsein und mit der Schuld, als Privilegierte das Leid der Unterprivilegierten abzulichten. Die streng komponierten Schwarzweißaufnahmen in dieser Literaturbeilage brechen aber mit dem gängigen westlichen Blick auf Indien: Anstelle von Unglück und Exotik zeigt Singh hier die geschlossene Gesellschaft Indiens, die sich langsam den Weltmärkten öffnet, die traditionellen Sippen im Wandel zur Kleinfamilie.

Diese gestellten und gleichzeitig intimen Fotografien erzählen Geschichten. Singh fotografierte die Entwicklung einzelner Familienmitglieder über Jahre hinweg. Manchmal zeigen die Bilder auch nur leere Räume, ohne Menschen. Doch diese Fotos von Bibliotheken, Toilettentischen oder Betten sind immer Hinweis auf die Abwesenden oder Toten. „Privacy“ ist nicht nur ein Familienalbum, sondern ein Archiv. Dayanita Singh schafft eine Nähe zu den Menschen und ihren Gegenständen, ohne zu viel von ihnen preiszugeben. AVG