Zu Besuch bei der "Erfurter Tiertafel": Tierwelt in Bredouillen
Eine Polizistin gründete die "Erfurter Tiertafel". Sie ist Tierschützerin und hat mit Orang Utans gearbeitet. Jetzt gilt es, Hunde-Leckerlis und Katzenstreu gerecht zu verteilen.
Mignon Gladitz, geb. 1970 in Görlitz, Polizistin u. Gründerin d. "Tiertafel" in d. thüringischen Landeshauptstadt Erfurt.
Die erste " Tiertafel" wurde im Sommer 2006 von Frau Claudia Hollm in Rathenow gegründet. Vereinszweck ist, Hilfe bei der Ernährung von Haustieren bedürftiger Menschen zu leisten und der Verwahrlosung und Aussetzung von Tieren vorzubeugen. Beschleunigt durch die Wirtschaftskrise gründeten sich seither zahlreiche regionale "Tiertafeln". Es werden inzwischen - mit Hilfe von Spenden und Sponsoren - 7.000 Kunden mit fast 15.000 Tieren unterstützt. Der Bundesverband des Vereins "Deutsche Tafel" hat Klage eingereicht gegen den Verein "Tiertafel Deutschland". In der Verwendung des Namens "Tafel" sieht er sein "Namens- und Markenrecht" verletzt.
In Deutschland gibt es schätzungsweise 26 Millionen Haustiere. Eine beträchtliche Anzahl davon lebt in Haushalten von Rentnern und Arbeitslosen. Hartz-IV-Bezieher mit Haustieren können keinen "Mehrbedarf" geltend machen (manche Gemeinden erlassen die Hundesteuer), der Unterhalt muss aus dem Regelsatz für Alleinstehende (359 Euro) bestritten werden. Da ist allerorten eine Futterspende äußerst hilfreich.
Die "Tiertafel" in Erfurt befindet sich im Norden der Stadt am Berliner Platz. Hierher fährt die Straßenbahn der Linie 1. Das gesamte Wohngebiet heißt Berliner Platz, ein Plattenbau-Komplex, der in den 70er-Jahren - sehr aufwendig, mit vielen Parkanlagen, Sport- und Kulturstätten - als Wohngebiet für 10.000 Einwohner errichtet wurde. Heute leben hier nur noch 6.000 Bewohner. Die Zahl der Arbeitslosen und Rentner ist hoch. Auf eine Geburt kommen drei Sterbefälle.
Um den Platz herum stehen ringförmig angeordnet die gepflegten Plattenbauten. Neben Grundschule und Spielplatz findet man auch Buchhandlung, Pizzeria, Nagelstudio, Zockerstübchen und Asia-Shop, Friseur und einige Ärzte. Die Bürger haben ein von Mäuerchen und Parkanlagen umgebenes Versorgungszentrum. Hier herrscht so ein bisschen Berliner "Hansaplatz-Atmosphäre". Es gibt eine Brunnenanlage mit Bronzeskulpturen des Berliner Bildhauers Waldemar Grzimek (der auch den Brunnen am Berliner Wittenbergplatz gestaltet hat) und eine kulturell sehr regsame Stadtteilbibliothek. Und es gibt reichlich Graffiti. Auf die Schaufenster eines leer stehenden Geschäftes sind antisemitische Aufschriften gesprüht. Gleich daneben ist ein Supermarkt der Kette "tegut", deren Eigentümer bekannte Anthroposophen sind.
Vor dem Geschäft stehen die Trinker und plaudern. Innen gibt es ein Bäckereicafé mit Stehtischen, aber auch mit Holzbänken, auf denen die Alten, die nichts konsumieren wollen, neben ihrem Rollator sitzen können. Im Geschäft gibt es erstaunlich viele Bioprodukte und eine Getränkeabteilung. Am Zeitschriftenstand liegt eine Unmenge von Rätselheften, wie sie offenbar von den Kunden hier verlangt werden.
Und um die Ecke, auf der Rückseite des Gebäudes, befindet sich in einem kleinen Laden die Tiertafel. Ein heller Raum, sparsam möbliert mit Topfpflanzen und Tierpostern an der Wand. In halbhohen Holzregalen warten die Vorräte auf Verteilung. Aus großen blauen Plastiktonnen verteilen zwei ehrenamtliche Helferinnen Trockenfutter und Katzenstreu. Neben der Eingangstür sitzt eine ehrenamtliche Mitarbeiterin am Tisch, vor sich ein Kästchen mit Karteikarten, eine Blattpflanze und eine Spendenbüchse. Sie empfängt die Kunden. Einige stehen bereits mit Futter versehen plaudernd draußen auf dem Vorplatz. Manche haben ihre Hunde dabei. Frau Gladitz kommt und stellt uns ihre Mitarbeiterinnen vor, dann zieht sie sich mit ihrer Stellvertreterin zu einer Besprechung zurück.
Vor den Tisch treten ein sprachgestörter älterer Mann und eine junge Frau, nebst einem dazugehörigen Begleiter. Sie möchten Hundefutter für einen kranken Freund abholen. Die ehrenamtliche Helferin sagt: "Eigentlich muss da jedes Mal eine Vollmacht vorgelegt werden." Man nickt ergeben. Die junge Frau sagt: "Aber er kann ja nicht schreiben, zurzeit. Er liegt im Krankenhaus. Der ist durchgedreht, mein Exfreund, hat mit Spiritus das Haus angebrannt. Lichterloh hat es gebrannt! Den haben sie dann festgenommen und am nächsten Tag wieder nach Hause gelassen. Es hat geheißen, er muss sich bereithalten, weil da noch eine Anzeige kommt. Das hat er nicht verkraftet." Sie macht eine Pause, "und ist rüber über den Balkon, fünf Stockwerke hoch! Eine Woche ist das her. Ich war dann mal drinnen. War ja klar, ich muss mich trennen, weil, ich kann nicht mehr!" Die ehrenamtliche Helferin sagt tröstend: "Also Sie bekommen jetzt alles, was Sie brauchen. Ich werde das mit der Chefin besprechen. Und wenn Sie zu ihm gehen, grüßen Sie ihn ganz freundlich?"
Schon kommen die nächsten Kunden. Drei alte Damen mit kleinen Hunden werden in allen Tonlagen von den Helferinnen begrüßt. Den Hunden werden "Leckerlis" gereicht, den Damen Tüten mit Futter. "Kann ich hier eine Kleinigkeit reintun?" Die Ehrenamtlichen danken für die Spende. Einige reich gepiercte, punkartige junge Männer und Frauen betreten den Laden, ihre großen und braven Hunde bewegen sich frei und streben sofort zu den Futtertonnen. Doch bevor sie die Schnauzen selig eintauchen können, werden sie am Halsband zurückgehalten. Sie bekommen etwas Hundekuchen und die Herrschaft eine Ermahnung. Eine Leine ist aber nicht zur Hand. Sie versprechen, beim nächsten Mal daran zu denken, bekommen Futter und dürfen sich für Weihnachten was wünschen für die Hunde. Sie wählen Lederhalsbänder und gehen mit Dank und Gruß davon.
Eine alte Frau, bescheiden, sorgfältig gekleidet, hat zu Hause Nymphensittiche. Sie bekommt Vogelfutter und einen Hirsezweig. Sie bedankt sich mehrmals, bevor sie geht. Die Helferin macht ihren Vermerk auf der Karteikarte und sagt: "Die einfachsten, ärmsten Leute, die sind fast die Ehrlichsten - und immer freundlich. Die kommen ja auch her, weil sie sich kümmern um ihre Tiere. Sonst würden sie ja gar nicht kommen!"
Es tritt eine junge Frau ein, sie hat einen Labrador an der Leine und sagt, sie sei Studentin, habe diesen Hund, aber nur sehr wenig Geld. Das Stipendium sei niedriger als der Hartz-IV-Satz, sie bekomme nur 645 Euro, inkl. aller Kosten. Die Helferin sagt zweifelnd: "Ich glaube, das ist nicht vorgesehen in unseren Statuten. Ich muss die Chefin fragen." Angesichts des enttäuschten Gesichtes der Studentin lässt sie aber dann doch eine Tüte füllen und rät, noch mal nachzufragen. Ein alter Mann mit kleinem Hund betritt den Raum. Die Frauen flöten - "Ach, da isser ja, der war so krank?" Gemeint ist der Hund. Er und sein Herr werden besonders verwöhnt. Als Nächstes treten zwei jüngere Frauen an den Tisch. Eine möchte Vogelfutter, aber weniger als sonst. Die Helferin fragt irritiert nach. "Also, ich hab jetzt nur noch eins", sagt die Frau, "weil ich eine Weile weg war". Und hier, ihre Schwester, "die hat bei mir gewohnt. Ich hab extra noch gesagt, kümmert sich bitte mal jemand? Ja, mach ich, hat sie gesagt. Und wie ich Freitag zurückkomme, waren alle weg. Tot! Da hab ich mir dann einen neuen geholt, nen Wellensittich." Die Helferin missbilligt die Vorgänge. Zur Futterverteilerin gewandt sagt sie resigniert: "Hier brauchen wir jetzt nur noch für einen Wellensittich." Sie korrigiert ihre Karteikarte, und schon sind die Nächsten dran. Sie bekommen Katzenstreu und Dosenfutter, für Weihnachten wünschen sie sich ein neues Katzenklo. Die Öffnungszeit neigt sich ihrem Ende zu.
Frau Gladitz schlägt vor, unser Gespräch in der Pizzeria um die Ecke zu führen. Sie beschließt, ihren Polizeihund mitzunehmen. Er wartet bereits ungeduldig in seinem Metallkäfig im Auto. Froh springt er heraus, ein belgischer Schäferhund, beschnüffelt uns etwas zu ausführlich und zieht die Herrin dann pressiert von einem Busch zum nächsten. "Er lernt noch, das sitzt alles noch nicht so richtig", erklärt die Herrin. Im Lokal nimmt er dann aber doch ganz brav unter dem Tisch Platz. Wir fragen, wie eine Polizistin auf die Idee kommt, eine sogenannte Tiertafel zu gründen.
Frau Gladitz lächelt und sagt: "Also da muss ich schon ein bisschen weiter ausholen. Ich habe ja an sich technische Zeichnerin für Maschinenbau gelernt, in der DDR noch. Dann kam aber die Wende, und es gab nichts mehr in der Region für mich. Also habe ich umgeschult auf Umwelttechniker, weil mein Interesse immer schon da war, für die Umwelt, und ich mich bereits engagiert hatte im Tierschutz. Nach der Umschulung war ich ein halbes Jahr im Umweltamt und dann kam ein Einstellungsstopp! Ich saß also wieder auf der Straße. Bis dann ein Kollege vom Umweltamt sagte, dass sie bei der Polizei Leute suchen." Fast flüsternd sagt sie: "Ne, also da geh ich nicht hin. Polizei, das ist nichts für mich, wo ich doch immer schon ein freiheitsliebender Mensch gewesen bin. Aber dann habe ich es halt doch probiert. Und bin angenommen worden, habe die Ausbildung gemacht, danach bin ich in den Streifendienst gekommen, hier in Erfurt, habe immer einen Streifgenwagen gefahren. 16 Jahre werden es nächstes Jahr. Und jetzt mache ich eine Ausbildung zur Diensthundeführerin, in Suhl.
Das ist also die eine Geschichte, und eine andere ist, dass ich mich seit ungefähr sieben Jahren für den Tierschutz engagiere, ich bin nämlich ein ganz großer Fan der englischen Primaten-Forscherin Jane Goodall, die sich ja sehr engagiert für Schimpansen. Über diese Schiene bin ich erst mal im Erfurter Zoo gelandet - der ist auch hier im Norden der Stadt - und habe mich dann an einem Nashorn-Projekt beteiligt 2006, habe da Foren, Ausstellungen, Sammlung von Geld mitorganisiert."
Dem Diensthund ist langweilig, er steht auf, schnüffelt herum und beleckt meine Hand, will gestreichelt werden. In scharfem Ton ruft Frau Gladitz: "Platz! Plaaaatz!" Der Hund gibt sich harthörig, legt sich aber dann doch seufzend wieder nieder. "Da muss ich leider laut werden, weil ,Platz' sitzt bei ihm noch nicht so. Jedenfalls habe ich im Jahr davor angefangen, meinen Urlaub so zu nutzen, dass ich bei Tierschutzorganisationen freiwillig gearbeitet habe. Bin halt vier Wochen irgendwohin gefahren. Zuerst nach Neuseeland - also Reisekosten und Unterkunft, das muss man ja alles selber tragen -, dort habe ich ein Praktikum gemacht bei den Rangern, im Abel-Tasman-Park, dem kleinsten Nationalpark Neuseelands. Das Jahr darauf, beim Nashorn-Projekt, habe ich jemanden kennen gelernt, der war ein Vermittler vom Jane-Goodall-Institut. Über den habe ich dann ein Auslandspraktikum in den USA bekommen, in Colorado, bei den Wölfen.
Die Station liegt 2.000 Meter hoch auf dem Berg, dort werden verletzte oder verwaiste Wölfe aufgepäppelt und artgerecht gehalten. So 20 Wölfe hatten sie dort, zwei davon waren etwas zahmer. Wir waren eine Gruppe von jungen Leuten und haben das riesengroße Gehege sauber gemacht und auch gefüttert, mal gab es eine halbe Kuh, mal ein Pferd. Morgens mussten wir ins Gehege zu den zwei Wölfen, mussten uns begrüßen lassen. Wir haben uns ganz gerade hingesetzt und die Zähne gebleckt, dann kamen sie, haben uns abgeschleckt, uns sozusagen die Zähne sauber gemacht. Du durftest nicht zurückweichen. Das war 2002. Im Jahr darauf bin ich nach Afrika gegangen, zu den Schimpansen, endlich. Es war ja immer mein Traum, mal zu Jane Goodall zu kommen, das habe ich aber leider nicht geschafft. Ich bin da einfach nicht reingekommen.
Dieses Affenprojekt war privat, von einem englischen Ehepaar. Das war leider keine gute Erfahrung, die haben echt die Leute ausgebeutet. Und dann wurde ich auch noch schwer krank. Zu meinem Glück war dort ein Arzt, ein Afrikaner, der in Deutschland studiert hatte. Danach war ich in Honduras auf einer Insel, bei den Schwarzen Leguanen. Das hatte ich mir im Endeffekt dann alles selber gesucht, alles aussterbende Tierarten. Normalerweise arbeiten eher Studenten in solchen Hilfsprojekten, aber sie nehmen auch unausgebildete Volontäre. Frauen machen das vor allem. Ich bin natürlich nicht unbedarft da hingefahren, ich habe mich mit Tierpsychologie, Zoopark-Kunde und so was in der Richtung beschäftigt.
Voriges Jahr, das war ein richtiges Highlight! Da war ich in Indonesien bei den Orang-Utans. Das war ein Projekt von Dr. Willie Smits. Der ist Holländer und eigentlich ein Forstwissenschaftler. Er hat es geschafft, auf einem 2.000 Hektar großen Areal den Regenwald wieder aufzuforsten." Der Diensthund läuft wieder aus dem Ruder, diesmal will er auf die Sitzbank steigen und neben der Herrin Platz nehmen. Die Abweisung nimmt er höchst ungern hin. Frau Gladitz fährt fort: "Dort wird ja überall der Regenwald abgeholzt, für Palmölplantagen, Biodiesel. Und dabei ist er auch auf das Schicksal der Orang-Utans aufmerksam geworden und hat 1991 BOS (Borneo Orang-Utan Survival Foundation) gegründet. Das ist heute das weltweit größte Orang-Utan-Schutzprojekt. Dort durfte ich mitarbeiten, Willie ist ein guter Freund geworden. Und als ich dort war, war übrigens auch gerade der Hannes Jaenicke dort und hat seine TV-Dokumentation über die Orang-Utans gedreht: ,Die letzten Zeugen'. Da ist alles Schreckliche zu sehen, was mit denen gemacht wird. Das kam im ZDF, man kann es auch im Internet anschauen. Wir haben viel abends zusammengesessen und geredet.
Und dann habe ich das besondere Glück gehabt, dass ich mich mit einer traumatisierten 17 Jahre alten Orang-Utan-Dame, mit Annie, beschäftigen durfte. Der Willie hat immer jemand gesucht dafür, und mir hat er das Einfühlungsvermögen zugetraut. Es ist mir tatsächlich gelungen. Gleich am ersten Tag hatte ich Kontakt zu ihr gekriegt, später hat sie sogar gespielt, ist ein bisschen in den Dschungel gegangen. Die Arbeit war nicht ungefährlich, muss ich sagen. Ich habe dort sozusagen zusammengelebt mit elf Orang-Utan-Damen und einem Orang-Utan-Männchen namens Boran. Der war richtig böse. Seine Weibchen waren alle schwanger. Ich habe eine Situation erlebt, da fehlte nur so viel, dann hätte er mich gehabt! Ich konnte grade noch die Tür zuschlagen. Die schleifen einen weg, zerren einen hoch auf den Baum. Sie vergewaltigen die Frauen, da hast du keine Chance mehr. Die haben ja die Kraft von zehn Männern. Also ich hätte tot sein können. Aber das mit Annie war ein schönes Erlebnis.
Und nun komme ich über diesen kleinen Umweg auf die Gründung der Tiertafel. Ich hatte im Fernsehen einen Beitrag gesehen und fand das interessant. Als ich zurück war, habe ich mit einem anderen Mädel zusammen eine Fotoausstellung über das Orang-Utan-Projekt gemacht, im Campus-Café der Universität Erfurt. Am 10. Juli war die Eröffnung. Und dann dachte ich, du kannst doch auch mal was hier machen, nicht immer nur im Ausland. Ich wollte was Gutes tun für die Tiere, und wenn man dem Tier hilft, dann hilft man ja dem Menschen auch. Also habe ich mich mit Claudia Hollm - der Gründerin der Tiertafeln - in Verbindung gesetzt und mir erklären lassen, was so alles notwendig ist für eine Gründung. Und dann habe ich eben versucht, Räume zu kriegen über die Stadtverwaltung. Aber das war nichts. Dann habe ich beschlossen, an die Presse zu gehen, hab Interviews gegeben. Da haben sich dann Leute gemeldet. Auch die Firma Tegut-Märkte, die uns den Raum zur Verfügung gestellt hat. Der stand zwei Jahre leer. Miete müssen wir nicht zahlen. Nur die Nebenkosten.
Und am 17. Juli war dann schon die Tiertafel-Eröffnung. Es lief alles parallel: das, die Fotoausstellung, und dann hatte ich ja auch noch meinen Job, meine Mutter, die Hunde, und nen Freund, ach! Wir haben die Eröffnung dann überall bekannt gemacht, auch mit Flyern. Aber am Anfang war nicht so viel los. Inzwischen haben wir insgesamt bis zu 300 Leute, mit etwa 500 Tieren. Wir müssen uns um Spenden bemühen, um Sponsoren, stellen jetzt auch Behälter auf in den Supermärkten für gespendetes Tierfutter. Am Anfang werden wir ja noch unterstützt von der Zentrale, aber dann müssen wir selbständig werden. Die Zahl der Kunden ist extrem angestiegen. Ich kann im Moment nicht voll mitarbeiten, da ich ja die Diensthundeführer-Ausbildung mache, aber ich habe sehr zuverlässige Mitarbeiterinnen.
Wir haben dann den Leuten anfangs erst mal erklären müssen, um was es geht, dass empfangsberechtigt nur ist, wer einen aktuellen Hartz-IV- oder Rentenbescheid vorlegt. Und dass sie eben nur eine gewisse Menge Futter bekommen - für einen großen Hund sind das zum Beispiel zehn Becher Trockenfutter und zwei Dosen -, es soll also keine Vollversorgung sein, nur eine Ergänzung, ein Zubrot. Und dann sind die Leute ja schon mal ein bisschen entlastet, können sich vielleicht mal was leisten und auch den Hund impfen lassen. Und wir legen von jedem eine Karteikarte an. Wir dürfen da auf Grund des Datenschutzes nur das Notwendigste reinschreiben. Es ist nur, damit wir wissen, wer hat welches Tier, wie viel bekommt er, wann war er da.
Einmal im Monat kommt ehrenamtlich ein Tierarzt, für so kleine Sachen, wie Krallenschneiden und um mal so den Allgemeinzustand der Tiere festzustellen. Bei Bedürftigkeit, also wenn eine Behandlung ansteht wie zum Beispiel eine Kastration, dann gibts von der Tiertafel einen Zuschuss von 15 Euro, in Form eines Gutscheines. Dann haben wir auch noch eine Friseurin, die hilft, wenn die Leute mit total verfilzten Tieren kommen. Das macht sie umsonst. Wir sind eben nicht nur eine ,Dosenschubs-Station', wir sind vor allem ein Tierschutz-Zentrum.
Und den Leuten kommt es zugute, die Leute brauchen ihre Tiere, weil viele einsam sind, hier in Deutschland. Und so sind wir nebenbei eben auch Kontaktzentrum, wo die Leute andere Leute treffen. Man sieht sich, man quatscht, tauscht sich aus. Also wenn was ist, wir fahren dann auch schon mal zu den Leuten hin, bringen ihnen was vorbei, eine Mitarbeiterin steckt vielleicht auch mal privat was zu. Man geht da schon sehr aus sich heraus.
Aber wir müssen schon auch aufpassen, dass wir uns das Problem nicht noch heranzüchten, wenn also beispielsweise die Hündin von einem Assi dauernd schwanger wird und der geht dann rum: Hier haste, hier haste, schenkt die Welpen weg an sozial schwache Kreise, damit ist uns nicht gedient, damit kriegen wir nur neues Publikum, was ja gar nicht gewollt ist. Also das Umfeld hier in diesem Raum ist schon ziemlich stark sozial schwach. Berliner Platz, Roter Berg und Rieth, die großen Plattenbausiedlungen hier im Norden, die sind alle sozial schwach. Wir haben auch Ausländer. Unter unseren Kunden sind einige russisch. Und wir haben eine große linke Szene hier. Das besetzte Haus ist vor einigen Monaten aufgelöst worden. War richtig böse, wäre beinahe dumm ausgegangen. Jetzt haben sie aber eine neue Bleibe. Am ,Kaffeetrichter' haben sie so ein altes Haus besetzt. Vorher waren sie jahrelang in diesem alten Fabrikgebäude, ,Topf & Söhne', da haben sie gehaust."
Elisabeth und ich rufen fast gleichzeitig aus: "Topf & Söhne? Die haben doch die Krematoriumsöfen für Auschwitz gebaut!" Frau Gladitz nickt. "Ja, ich weiß. Und da mussten sie nun raus, weil der jetzige Besitzer ein Museum reinmachen will." (Das Gelände wurde 2001 besetzt. Die Besetzer haben in eigener Initiative die Geschichte der Firma im Faschismus erarbeitet, Materialien gesammelt und sachkundige Führungen und Ausstellungen gemacht, siehe ihre Website "Besetztes Haus Erfurt" (http://topf.squat.net). Ihr Wunsch nach Förderung eines Ausstellungsprojektes im ehemaligen Verwaltungsgebäude wurde nicht erfüllt. Sie wurden im April 2009 mit starkem Polizeieinsatz zwangsgeräumt. Anm. G. G.). "Einige von denen kamen auch hierher, vier Stück oder fünf Stück. Jetzt nicht mehr. Wir haben noch welche, die gehören vielleicht zur linken Szene, aber nicht mehr zum besetzten Haus.
Aber ich muss sagen, ich komme mit den Leuten gut klar, ich stelle mich mit denen hin und schwatze ein bisschen. Dann merken sie auch, ey, die ist gar nicht so. Ich habe eigentlich keine Probleme." Wir fragen nach Neonazis. "Nicht jetzt direkt als Kunden, aber ja, haben wir auch welche hier. In Weimar drüben ist es schlimmer. Wir kennen unsere Kunden ja, die meisten kommen regelmäßig. Wenn wir um zehn Uhr aufmachen, dann ist oft schon eine Schlange da. Jetzt zu Weihnachten wird es voll, da werden ja auch die Geschenke verteilt, soweit wir die Wünsche erfüllen konnten."
Der Diensthund steht auf, sie greift nach seinen Ohren und lässt sie durch ihre Hände gleiten, das scheint ihm zu gefallen. Aber besonders gefällt ihm, dass das Warten nun ein Ende hat. Das Lokal will schließen. Wir bedanken uns für das Gespräch.
Dem Diensthund ist langweilig, er steht auf, schnüffelt herum und beleckt meine Hand, will gestreichelt werden. In scharfem Ton ruft Frau Gladitz: "Platz! Plaaaatz!"
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen