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Stimme meiner Generation

Ziviler Ungehorsam: ja oder nein? Wer ist hier gebrainwashed?

Stimme meiner Generation: Schule abbrechen, um das Klima zu retten? Ruth, 27, findet das prätentiös und naiv. Doch dann trifft sie Lina, 19, von der „Letzten Generation“.

„Stoppt den fossilen Wahnsinn“. Ja, aber geht das bitte auch erst nach dem Abitur?! Foto: Sebastian Gollnow/picture alliance/dpa

Von RUTH FUENTES

taz FUTURZWEI, 25.05.22 | Café Engels, Neukölln. Hier frühstückt also der deutsche Klimawiderstand, wie passend. Dazu gehört auch Lina. Aktivistin beim „Aufstand der letzten Generation“. Eine von der Bild-Zeitung verhasste „Klima-Extremistin“, die Straßen blockiert und Pipelines abstellt und die Arbeiterschicht daran hindert, pünktlich auf der Arbeit zu erscheinen.

Ich bin zehn Minuten zu spät, unblockiert, aber immerhin mit dem Fahrrad.

Kolumne STIMME MEINER GENERATION

Ruth Fuentes und Aron Boks schreiben die neue taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.

Fuentes, 29, wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und war bis Januar 2023 taz Panter Volontärin.

Boks, 27, wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.

Lina winkt. Kurze Haare, Hoodie und Jeans. 19 Jahre alt. In der Tasche kein Abitur. Deswegen bin ich hier. Ich meine, wie kann jemand zwei Monate vor seinem Abi einfach hinwerfen? Um sich auf die Straße zu kleben, weil der „Untergang naht“. Wie prätentiös. Und naiv. In der Schule habe ich gelernt, dass das der Stoff ist, aus dem Fanatiker sind. Und auch, dass solche Leute gefährlich sind. Und dann langsam die Kontrolle über ihre Leben verlieren.

Bei meinem ersten Anruf sitzt Lina in Frankfurt in Gewahrsam. Heute lacht sie zur Begrüßung herzallerliebst. Was hatte ich erwartet? Eine von Klimaangst getriebene Sektenanhängerin? Eine verbitterte Aktivistin im Kampf gegen den Rest der Welt, die mich und meinen Kuhmilch-Cappu verurteilend mustert? Irgendeins dieser Klischees eben, die erklären sollen, warum sie im Januar die Schule abgebrochen hat. Für die Sache.

Denn die Zeit drängt

„Weil ich jetzt nicht weiter am Schreibtisch sitzen kann und zuschauen, wie ein Kipppunkt nach dem nächsten erreicht wird. Lernen, während die Wissenschaft sagt, dass wir nur noch zwei bis drei Jahre Zeit haben“, wie sie mir erklärt. Die Sonne knallt auf unseren Tisch. War es letztes Jahr im Mai auch schon so heiß?

„Also, die Frauenwahlrechte sind nicht gekommen, weil die Leute gesagt haben, ich gehe jetzt mal zur Schule und hoffe dann, dass ich irgendwie dadurch was verändern kann. So ist es nicht passiert.“

Wir sitzen uns gegenüber und sie erzählt. Von den Suffragetten, den Freedom Riders. Darüber, wie Dinge sich verändert haben, weil Menschen massenhaft zivilen Ungehorsam ausgeübt haben, dabei gewaltfrei geblieben sind, bereit waren, festgenommen zu werden. Ihre Geschichtshausaufgaben hat Lina jedenfalls gemacht. Wenn es nach ihr ginge, müsste es jeden Tag, vor jeder Schulstunde einmal heißen: „Klimakollaps! Bitte handelt.“ Nicht Bambus-Zahnbürsten kaufen oder im Second Hand-Laden shoppen oder so, sondern wirklich den Wandel erzwingen. Ich zupfe an meinem Vintage-Hemd und nicke verständnisvoll.

Die meisten Menschen leben ihr Leben im „eigentlich“ hat Kurt Tucholsky mal geschrieben. Auch wir wollen eigentlich alle mehr gegen die Klimakrise tun, aber da ist ja noch das Studium oder die Familie oder … Bequemlichkeit, sagt Lina. „Ich habe ja auch nicht von heute auf morgen entschieden: Ich breche jetzt ab.“ Nein, es kamen fast fünf Jahre Aktivismus, vom Pappschild auf der Demo hochhalten, bis zum zivilen Ungehorsam und Straßenblockaden. Im vergangenen Jahr dann ein Hungerstreik. Dann kam der Aufstand der letzten Generation. Der Schulabbruch. Man könnte das auch Radikalisierung nennen …

Gibt es keinen Mittelweg?

„Wir sind unsere Entscheidungen.“ sagt Sartre. Danach wollte ich immer leben. Doch ich würde sagen, es ist Lina, die die Eins mit Stern in „Existentialismus“ verdient hat. „Ich kann das nicht mit mir vereinbaren, zu wissen, dass so wenig Zeit bleibt und trotzdem nicht zu handeln“, sagt sie. Für ein „eigentlich“ ist da kein Raum.

„Wäre es nicht möglich, Aktivismus und Schule gleichzeitig zu machen?“

„Natürlich ist es möglich, aber es ist faktisch so, dass du mehr Zeit hast, wenn du es nicht machst.“

Fair enough.

Sie würde natürlich auch lieber ihr Abitur machen, sagt Lina. Gerne studieren, statt jede Woche in Gewahrsam zu sein oder stundenlang auf irgendeiner Straße zu kleben. „Aber ich sehe es halt als meine Pflicht an, genau da dabei zu sein.“ Das klingt irgendwie gar nicht so brainwashed, wie die „letzte Generation“ manchmal dargestellt wird. Und ich beginne zu zweifeln. Bin ich eventuell vom Mainstream gebrainwashed? Oder noch schlimmer: eine spießige Erwachsene?

„Was sagen eigentlich deine Eltern dazu?“

„Das werde ich oft gefragt. Klar machen sie sich Sorgen. Aber das große Problem, warum ich das mache, ist ja viel schlimmer, als dass ich jetzt mein Abitur abbreche: Was bringt mir ein abgeschlossenes Studium, ein gutes Abitur, ein Doktortitel, wenn ich auf einem Planeten lebe, auf dem wir nicht überleben können?“

Boah, wie übertrieben, denke ich kurz. Aber warum eigentlich?

Privilegien und Pflichten

Alles privilegierte Mittelschichtskinder, versuche ich mir einzureden. Doch wenn nicht diejenigen Leute Druck ausüben, die das Privileg genießen, zivilen Ungehorsam überhaupt einsetzen zu können, um auf die Dringlichkeit der Klimakrise aufmerksam zu machen – wer dann?

„Ich muss los“, sagt Lina, als sie ihren Hafer-Latte Macchiato ausgetrunken hat. Bald startet die nächste Aktion.

„Ich hoffe, du kommst nicht Gewahrsam.“, sage ich.

„Ach“, sie zuckt mit den Schultern. „Wäre ja nicht das erste Mal.“

„Bereust du, wofür du dich entschieden hast?“

„Nein.“ Sie schüttelt den Kopf. „Niemand muss die Schule fertig machen.“

Ich hoffe wirklich für sie, dass sie Recht behält.

Die Kolumne „Stimme meiner Generation“ wird von der taz Panter Stiftung gefördert.