Zivildienst: "Verlust im Zwischenmenschlichen"
Wirtschaftlich wäre die Abschaffung des Zivilidienstes zu verkraften, sagt Bert Hinterkeuser von der Arbeiterwohlfahrt.
taz: Herr Hinterkeuser, was würde eine Abschaffung des Zivildienstes für Ihre Arbeit bedeuten?
Bert Hinterkeuser: Vor ein paar Jahren hätte uns als Wohlfahrtsverband die Diskussion sehr irritiert. Doch über eine Abschaffung der Wehrpflicht wird schon so lange debattiert, dass wir erst in Ruhe abwarten. Ohnehin sinkt die Zahl der Zivildienstleistenden ständig. Im Jahr 2000 gab es bundesweit mehr als 125.000 Zivildienstleistende. Heute arbeiten weniger als die Hälfte mehrheitlich in Pflegeeinrichtungen - bei mehr Pflegebedürftigen.
Wie haben Sie reagiert?
Die AWO hat gegengesteuert, indem wir die Freiwilligendienste verstärkt und mehr auf die ehrenamtliche Schiene gesetzt haben. Heute machen immer mehr junge Menschen ein Freiwilliges Soziales Jahr. So können wir viel kompensieren.
Auch, wenn es irgendwann keine Zivis mehr geben wird?
Sollte der Zivildienst abgeschafft werden, kann die AWO ohne größere Engpässe darauf reagieren. Die Pflege ist gewährleistet. Aber im zwischenmenschlichen Bereich droht ein Qualitätsverlust. Die Zivis bringen mehr Menschlichkeit in die Pflege. Sie haben etwa Zeit, mit Patienten Schach zu spielen oder sich zu unterhalten. Wenn die Zivildienstleistenden fehlen, ist zu befürchten, dass eine solche Betreuung nicht mehr realisierbar ist.
Wird es dann zu Neueinstellungen kommen?
Das könnte auf uns zukommen. Die Zivis nehmen den Fachkräften manche Arbeiten wie Umbetten oder Wäschewechsel ab. So bleibt den Fachkräften mehr Zeit für ihre eigentliche Arbeit.
Welche Alternativen gibt es zum Zivildienst?
Die Lücke kann etwa mit Ehrenamtlichen gefüllt werden. So müsste man das Freiwillige Soziale Jahr ausweiten beziehungsweise die Freiwilligendienste attraktiver gestalten. Zum Beispiel durch Qualitätszertifikate oder eine einheitliche Anerkennung des Dienstes als Praktikum.
Bleibt der Wegfall der Zivis also völlig folgenlos?
Es ist zu befürchten, dass im Pflegebereich höhere Kosten auf alle Beteiligten zukommen. Außerdem: Ein Großteil der ehrenamtlich Tätigen ist erst durch diesen Zwangsdienst mit der Arbeit am Menschen in Kontakt gekommen. Berührungsängste vor dem Umgang mit Pflegebedürftigen oder Behinderten sind zunächst nichts Ungewöhnliches. Viele ehemalige Zivis aber sprechen von ihrer Dienstzeit als einer entscheidenden Lernphase, die sie geprägt hat - zugunsten der Allgemeinheit.
INTERVIEW: PETRA KILIAN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!