: Ziege am Abhang
Wer viel schläft, lernt die Grenzen zwischen romantischer Liebe und sexuellem Begehren im Traum überwinden. „The Science of Sleep“ von Michel Gondry (außer Konkurrenz)
Michel Gondry’s Film „The Science of Sleep“, der im Wettbewerb leider nur kurz und außer Konkurrenz lief, gefiel mir bislang am besten. Es ist ein toller Film! Warmherzig, fantasievoll, verspielt, voller schöner Einfälle, superbunt zuweilen. Die Protagonisten sind supersympathisch, und immer wieder gibt es Überraschungen. Häufig sieht man Dinge, die man zuvor noch nie gesehen hat, und am Ende ist man froh, ein Stück des eigenen Lebens in diesem Film verbracht zu haben.
Bisschen traurig ist es dann allerdings auch, dass er schon aus ist. „The Science of Sleep“ kann man empfehlen wie eine gut schmeckende Medizin, die man einnimmt, um seine Sorgen zu vergessen. Das klingt ja zunächst erstmal bescheuert, denn bei den meisten als „vergnüglich“, „warmherzig“, „fantasievoll“ und „mit Esprit“ angekündigten Filmen geht es einem ja ganz erbärmlich danach und dabei: Man wird wütend, schlecht gelaunt, man hasst die niedlichen Charaktere und die billigen Tricks, mit denen man als Zuschauer gefügig gemacht werden soll, und wünscht den neben einem blöd kichernden Zuschauern alles Schlechte.
Man merkt es sicher schon: Eigentlich mag ich keine stilvoll, vergnüglichen Filme, aber dieser Film des französischen Regisseurs Michel Gondry ist wirklich äußerst angenehm, und das Schöne im Angenehmen ist auch noch, dass der schüchterne Held, Stephane (Gael Garcia Bemal), eine – wie soll man sagen – so angenehm, romantische, kindliche Auffassung von der Liebe hat.
Eigentlich geht es darum, dass die beiden Liebenden komische Spielzeughelme aufsetzen, die miteinander durch Plastikschläuche verbunden sind. Irgendwie synchronisieren sich dann ihre Gehirne, und etwas geheimnisvolles Drittes entsteht. Stephanes Vorstellung von der Liebe ist also die Symbiose. Vor der kruden Sexualität ist ihm dagegen superbang. Er fühlt sich auch ständig abgewiesen und traut sich nicht.
Elegant spielt „Science of Sleep“ mit Freud’schen Traumdeutungstheorien. Stephane verwechselt Traum und Wirklichkeit seit seiner Kindheit, und weil er sehr viel schläft, lohnt sich das auch. In seinem wunderschön gebastelten Traumlabor, einer Art TV-Studio mit Pappkameras und Wänden aus Eierkartons, erklärt er die Funktionsweise von Träumen und versucht sie zu gestalten.
In seinem Wachleben ist er gerade aus Mexiko nach Paris gekommen. Sein Vater ist gestorben. Er zieht in sein schönes altes Kinderzimmer und verliebt sich in seine Zimmernachbarin Stephanie (Charlotte Gainsbourg), die seelenverwandt, aber etwas wirklichkeitspraktischer als er ist. Die Mutter hat ihm einen Job in einer kleinen Firma vermittelt, die Kalender mit nackten Frauen, Hunden u. ä. herstellt. Die Arbeit ist nicht so kreativ, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Kollegen sind aber super.
Einer ist ein alternder Don Juan, der immer nur Sex im Kopf hat. Die Grenzen zwischen romantischer Liebe und sexuellen Wünschen sind so durchlässig wie die zwischen Traum und Wachleben. Oft verspricht man sich und sagt laut „Penis“. Im Traum besteht das Wasser aus Cellophan, und Rasierapparate krabbeln durch den Raum und produzieren dabei Haare. In gewisser Weise – das ist eins der Freud’schen Elemente des Fims – sind die Kollegen von Stephane Abspaltungen seiner selbst. Er hält Händchen, und sie rufen, er solle jetzt die schöne Sexstellung „Ziege am Abhang“ mit ihr machen.
Das mag nacherzählt etwas konfus klingen; die Logik der Filmbilder aber ist es nicht, sondern eben eher verspielt, manchmal auch voll traurig, zu Herzen gehend und überrascht einen immer wieder aufs Neue mit den liebevollsten Animationen.
DETLEF KUHLBRODT
„The Science of Sleep“. Regie: Michel Gondry. Mit Gael Bernal, Mio-Mio, Charlotte Gainsbourg; Frankreich 2005, 105 Min.