piwik no script img

Zerstörte OrtePicknick zwischen Ruinen

Wie geht es weiter, wenn die Orte zerstört sind, die Menschen sich aber erinnern? Zwei Filme im Forum: Atsushi Funahashis "Deep in the Valley" und Simon Le Habres "The One Man Village".

Sato Mayu und Nomura Yuki in "Deep in the Valley". Bild: berlinale

Landschaften kollektiver Erinnerung und Amnesie: Mit diesem Thema befassen sich zwei Filme im Forum der Berlinale. "Deep in the Valley" spielt im Tokioter Traditionsbezirk Yanaka und spürt der Geschichte einer verschwundenen, 1957 zerstörten fünfstöckigen Pagode nach. "The One Man Village" beobachtet ein Leben in der dauerhaft durch Bürgerkrieg zerstörten Region um Mount Lebanon, eine Stunde von Beirut entfernt.

Ganze Dörfer wurden in den Jahren 1975 bis 1990 im libanesischen Bürgerkrieg zwischen Christen und Drusen-Milizen entvölkert und zerstört. Vom "Central Refugee Fund" gefördert, durften ab 1994 christliche Einwohner in die Ruinenlandschaft zurückkehren - so steht es zu lesen auf einem verrosteten Informationsschild in der Umgebung des Dorfes Ain-al-Halazon.

Hier lebt Semaan El Habre allein als Bauer mit seinen Hühnern und schüchternen Kühen: Lady Vicky, Rabiia, Mrs. Hannouni oder Mr. Misk. In aller Ruhe erklärt El Habre die Launen seiner geliebten Tiere vor der laufenden Kamera seines Neffen Simon Le Habre und spricht über sein Leben als einziger Bewohner des Dorfes. Vor fünf Jahren kehrte er zurück, um wieder ganz in seinem Geburtshaus zu leben. Alle übrigen Nachbarn von früher, die nach Beirut geflüchtet waren, besuchen ihr Heimatdorf nur noch am Wochenende, wo sie sich dann um ihre Schrebergarten-artigen Landparzellen kümmern oder in ihren Hausruinen Picknick machen: "We love the land like we love our children", heißt es. Die Jugend interessiere sich heute aber für andere Dinge, klagen die Alten.

"The One Man Village" ist das eindringliche Porträt einer komplexen, vergessenen Landschaft, die größtenteils von der älteren Generation als ein mit Erinnerungsstücken besetzter Phantom-Ort ihres Gedächtnisses aufgesucht wird. "Love ended", erinnern sich die Menschen an das friedliche Zusammenleben früher im Dorf: "Keiner weiß heute mehr, wie der Krieg begann, aber jeder, wie er endete."

Weit über den eigenen, familiären Zugang und Horizont hinaus gelingt es Simon El Habre in "The One Man Village", die Landschaft als Gedächtnisraum zu zeigen. Mit zurückhaltender Distanz versucht er - als Stillleben und in gezielten und doch beiläufigen Gesprächen - nicht nur seinen Onkel zu verstehen, sondern auch die psychosozialen Facetten derer, die es vorzogen, nicht in das Dorf zurückzukehren.

Für "Deep in the Valley" hat der japanische Regisseur Atsushi Funahashi junge Studenten seines Seminars an der Tokioter Film- und Schauspielschule ENBU als Schauspieler eingesetzt. Ein gemeinsames Filmabschlussprojekt zwischen Dokumentation und Fiktion. Die Geschichte kreist um eine fünfstöckige Pagode, die einst im Friedhof des Wohnviertels Yanaka in der historischen Innenstadt von Tokio stand. Ursprünglich 1644 erbaut, wurde sie durch ein Feuer zerstört und 1791 wieder errichtet. 1957 brannte die Pagode erneut nieder, derzeit bemüht man sich abermals um einen Wiederaufbau.

Ausgelöst durch den tatsächlichen Fund einer privaten 8-mm-Filmaufnahme des letzten Brandes, beschloss Funahashi, die geplante Dokumentation des Viertels am Originalschauplatz in eine Liebesgeschichte zu betten. Das Mädchen Kaori arbeitet bei einer NGO zur Restauration und Erhaltung von Homemovies. Auf ihrer Suche nach dem verschollenen Film vom Brand der Pagode begegnet sie unterschiedlichen Bewohnern der Tempelstadt Yanaka: einem Mönch, einem Historiker, einem Kunsthandwerker. In den Kleinkriminellen Hisaki verliebt sie sich. Oft nimmt die verlorene Erinnerung hier fast absurde Züge an. Der kaum sichtbare Grundriss der Pagode wird vor Ort sogar wie ein Schrein verehrt: "Since I know its gone: I really miss it!", meint eine fast erblindete Friedhofspflegerin.

Die Rekonstruktion und Dokumentation der fast fiktiven Erinnerung ergänzt Funahashi um die klassische Vorlage des japanischen Dramas "Die fünfstöckige Pagode" von Rohan Koda (1892), angesiedelt in der Edo-Periode im 18. Jahrhundert. Der Zimmermannsgeselle Jubei möchte seinen Traum vom Bau einer fünfstöckigen Pagode verwirklichen, allein und gegen allen Widerstand. Nahtlos reihen sich in "Deep in the Valley" die Geschichten zwischen Gegenwart und Vergangenheit in Schwarz-Weiß aneinander - und am Ende schließt sich der Kreis: Die Pagode brennt.

"The One Man Village". R: Simon El Habre, Libanon 2008, 86 Min.; 15. 2., 12 Uhr, Cinestar; "Deep in the Valley", R: Atsushi Funahashi, Japan 2009, 135 Min.; 15. 2., 13 Uhr, Cubix

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare