Zerplatzte Träume: Der Greis und die Ruine
Man schreibt das Jahr 2.400. Die Elbphilharmonie ist halb fertig, hat kein Dach über dem Kopf. Konzerte gab es nie. Aber der Ur-Ur-Urenkel des einstigen Intendanten Christoph Lieben-Seutter hält als letzter Hamburger durch. Ein sentimentales Märchen.
Nein, sagte James, es ist wieder keiner gekommen. Tränenumflort blickte Christopherus Seuterius VII. auf seinen treuen Diener. In letzter Zeit hatte er stark nachgelassen, war selbst zum Mittagessen im alten Frottee-Bademantel erschienen. Heute hatte er Urgroßvaters braunes Mittagsjäckchen angelegt.
Dabei hatte er sich eigentlich schick machen wollen. Denn wie alljährlich am Neujahrstag war ein Konzert zu Ehren derer von Stuth und von Welck geplant, die als Schirmherren der Elbphilharmonie galten, als deren Intendant Christopherus Ur-Urgroßvater berufen worden war. Ein, zwei Nachfahren der beiden Hamburger Ex-Kultursenatoren lebten noch. Aber die gingen wohl lieber Bötchen fahren als ins Konzert.
Andererseits wäre es Christopherus schon peinlich gewesen, mit zerlöchertem Dach dazustehen; nicht einmal Planen hatte der Dachdecker diesmal über die Ruine gespannt. Ursprünglich hatte das ja alles aus Glas sein sollen. Dann war aber der legendäre Sturm anno 2.345 gekommen. Hamburgs Elbphilharmonie war halb fertig gewesen, dichter Novembernebel herrschte. Ein großer Kran sollte das "größte Fassadenelement von allen" montieren - zur Freude der mit Luftballons und Wunderkerzen angereisten Bevölkerung. So ganz treffsicher war der Kranführer nicht, hatte er doch erst kürzlich den halben Lastenaufzug mit einem Glaselement zertrümmert, aber Chef ist nun mal Chef, und der Kranführerlehrling sollte es nicht machen, fand die Belegschaft. Also hatte Franzke das Teil bei Windstärke 12 in die Höhe gewuchtet und sehr präzise den Eigentumswohnungsturm geköpft. Zurück blieb eine Art gläsernes Haifischmaul, breit und gierig gen Himmel geöffnet. Vom Konzertsaal, das war tröstlich, stand noch kein Stein; der konnte also nicht beschädigt werden.
Aber trotzdem, was jetzt den Investoren sagen? Wie Hamburgs Hautevolee trösten, die ihre Elbblick-Maisonettes im Geiste schon möblierte? Ein wahrer Tagungsmarathon begann: Ausschüsse, Deputationen, Fraktionen, Bürgerschaft, Senat sowie das neu eingeführte Allthing tagten, letzteres eine Art Kultur-Ältestenrat aus pensionierten Juristen. Jahre vergingen, und man hätte manches retten können. Doch der Klimawandel war schneller - und hatte eines Morgens einen Großteil der Ruine abgeschmolzen. Schön hatte das ausgesehen, wie auf Salvador Dalis Bild mit der schmelzenden Zeit, eine Einladung zum philosophischen Diskurs, fand die Subkultur-Szene hämisch.
Ökos wollten kein Plastik
Eine Weile überlegte man, das Ganze mit preiswertem Schiefer aus dem Bergischen Land aufzufüllen. Das sei ein so intelligenter wie formschöner Materialmix, hatten die Architekten Artig und Maurer argumentiert. Allein, man verwehrte es ihnen. Zu schwarz, vor allem: zu nass sähe das aus bei dem vielen Hamburger Regen. Das werde dem Image Abbruch tun, fanden Senat und Bürgertum.
Dann also eine ewige Ruine? Nun ja, warf ein ergrauter Senatsherr ein, der Kölner Dom habe auch 200 Jahren lang halbfertig herumgestanden, ohne dass irgendwer depressiv geworden wäre. Und dann hatte man doch noch den Dombauverein gegründet und die Fertigstellung finanziert. Warum also nicht die Nachfahren der Elbphilharmonie-Stifter zusammentrommeln, um ein, zwei Fünferlein zu akquirieren?
Gesagt, getan: Die erste Sitzung der Weißhaarigen verlief in freundlicher Atmosphäre. An eine "Elbphilharmonie" freilich erinnerte sich niemand. Wohl aber an die Hammaburg, und für deren Wiederaufbau wollte man gern spenden. Was also tun, um die Greise zu überzeugen? Das Konzerthaus in Hammamonie, Harmonium oder gleich Ziehharmonika umbenennen? Ein bisschen sah die Ruine jetzt ja so aus, und außerdem war die Ziehharmonika schließlich im Hamburger Hafen erfunden worden...
Wieder einmal zögerten die Hanseaten, bis es zu spät war: Mit der Währungskrise von 2.360 sank die Spendierfreude auf Null; die Verteuerung des rasant schmelzenden Rohstoffs Glas folgte. Kurzfristig erwog man eine Plastik-Lösung, aber da bockte die Ökopartei - warum, wusste Christopherus nicht mehr genau. Monate später waren alle nur denkbaren Politiker zurückgetreten und ins Containerschiff-Märchenland Wilhelmshaven gezogen, wo man gerade mit dem Bau einer Wilharmonie begonnen hatte. Die sollte - Inbegriff des Wohlstands - aus schmelzsicherem Glas bestehen und wie ein Schiff aussehen. Das erinnere die Menschen, so die zu Architekten umgeschulten Ex-Kapitäne, ans Meer.
Christopherus Seuterius VII. wurde bei diesen Aktivitäten nicht gebraucht, da wollte man jüngeres Blut. Aber Hausmeister und Letzter-macht-das-Licht-aus-Wächter könne er wohl sein, hatte man ihm gesagt, als er um Vertragsverlängerung ersuchte. Dafür sei er, als weltältester virtueller Intendant in dritter Generation, durchaus qualifiziert, fanden die Thing-Juristen.
Ein sinkendes Schiff
Anfangs war er geschmeichelt, sogar ein bisschen stolz drauf gewesen und hatte darüber gar nicht mitbekommen, dass es in der Ruine immer einsamer wurde. Ein bisschen abgesackt war sie übrigens auch; einige der Gründungs-Holzpfähle waren im sich erhitzenden Wasser faulig geworden und hatten dem Gebäude ganz schön Schlagseite verschafft. "Wie ein sinkendes Schiff", pflegte Christopherus zu witzeln, wenn sein Butler gerade mal in der Nähe war. Aber auch solche Scherze waren selten geworden. Wie lange würde er wohl noch leben, dachte Christopherus. In Zeiten wie diesen konnten es gut und gern 300 Jahre werden. Wenn er ordentlich aß, auch 400. Und wer weiß, vielleicht würde er irgendwann am anderen Ende der Zeit wieder herauskommen. An jenem Ende, an dem Hamburg noch vital und voll Glaubens an sein schönes, gläsernes Konzerthaus in spe war.
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