Zeithistoriker über Berlusconis Erfolg: "Berlusconi agiert subversiv"
Die Demokratie in Italien ist nicht in Gefahr, meint der Zeithistoriker Ernesto Galli della Loggia. Er sieht den Grund für Berlusconis fortdauernden Erfolg vor allem im Versagen der Linken.
taz: Herr Galli della Loggia, im Ausland gibt Italien nicht gerade das beste Bild ab: Vom "Stinkstiefel" ist die Rede, sogar von einem "failed state". Wie ernst nehmen Sie eine solche Kritik?
Ernesto Galli della Loggia: Ökonomisch befindet sich Italien wegen der hohen Staatsverschuldung in einer sehr schwierigen Situation. Davon abgesehen geht es bei der Kritik vor allem um Politik - um die Spitze der italienischen Regierung, die sich von anderen wesentlich unterscheidet: Berlusconi. Für diese Präsenz gibt es politische Erklärungen. Der Punkt ist aber: Wollen wir uns mit diesen politischen Erklärungen beschäftigen oder wollen wir ins Feld der Folklore wechseln?
Bleiben wir ernsthaft!
Die politischen Gründe sind auch interessanter, weil Berlusconi so offensichtlich eine folkloristische Figur ist. Für seinen dauerhaften Erfolg gibt es zwei Gründe: Erstens hat er keine echten Gegner. Die italienische Linke löst sich auf. Zweitens: In Italien gibt es eine weit verbreitete Ablehnung der Politik. Und Berlusconi ist der Anti-Politiker schlechthin. Er kommt nicht aus der Politik, er lebt nicht von der Politik und er verhält sich nicht wie ein Politiker. Wenn er obszöne Gesten macht, dann gefällt das nicht der "New York Times", "Le Monde" - wahrscheinlich auch nicht der "taz"...
Eher nicht.
Berlusconi weiß, dass er mit solchen Gesten eine höchst wichtige Botschaft transportiert: Ich bin nicht wie all die anderen, ,traditionellen' Politiker. Ich bin einer von euch. Ich tue, was ich will und benehme mich wie ein normaler Mensch. Ich gehöre nicht zur "Kaste". Sein Verhalten erinnert an andere Leader wie Sarkozy oder Putin, die auch eine populistische Variante der Demokratie darstellen und mit denen Berlusconi sich hervorragend versteht.
Ist Populismus etwas grundsätzlich Böses?
Nein. Der Populismus ist ein unvermeidliches und im Grunde richtiges Element der Demokratie. Oft verstehe ich nicht, warum die Linke Sympathie für diese antidemokratischen Superpopulisten wie Chavez oder Morales haben kann und dann derart entschieden populistische Figuren ächtet, die keine Gefahr für die Demokratie darstellen.
Aber im Unterschied zu Sarkozy oder Putin ist Berlusconi nicht nur ökonomisch unabhängig, sondern kontrolliert auch die Massenmedien
Nicht ganz so sehr wie Putin!
Aber Putin ist auch der Chef eines höchstens halbdemokratischen Landes
Das stimmt. Aber dann müssen wir uns fragen, warum die Linke, als sie an der Regierung war, kein Gesetz gemacht hat, um diese Macht zu kontrollieren. Und dann lautet das Ergebnis erneut, dass der Erfolg Berlusconis vor allem den Versäumnissen der Linken geschuldet ist.
Weil die rechten Parteien von den Dingen sprechen, die die Leute wirklich bewegen?
Ja, wie alle Populisten. Die Linke ist weit weg von der sozialen Realität Italiens, ihre soziale Basis hat sich verändert. Wie überall in Westeuropa ist sozusagen das Volk verschwunden. Der so genannte "reflektierende Mittelstand", Lehrer und Uni-Dozenten, sind nun die Basis der Linken. Ihre Wähler sind gebildeter, haben modernere Berufe als die Rechten. Vor dreißig Jahren war das genau umgekehrt. Dabei geht es aber nicht um Geld, sondern um Kultur. Die rechten Wähler sehen auch mehr fern.
Profitieren die Wähler Berlusconis ökonomisch von seiner Politik?
Nicht nur die. Berlusconi hat die kommunalen Steuern auf das Eigenheim abgeschafft. Das betrifft 80 Prozent aller Italiener. Um die Konjunktur anzukurbeln, schlug er vor, dass jeder Hausbesitzer sein Haus um 20 Prozent vergrößern darf. Das hat Landschaftsplaner und Umweltschützer auf die Barrikaden gebracht, denn das hätte katastrophale Effekte. Aber das Thema interessiert eben 80 Prozent der Wähler - linke wie rechte. Genauso wie die Frage der Sicherheit in den Städten. Über die Formen kann man diskutieren. Die einen mögen's gar nicht - etwa die so genannten "ronde" [Bürgerpatrouillen] -, aber Berlusconis Themen sind Mehrheitsthemen. Das gilt auch für seine TV-Sender. Die gefallen der Mehrheit der Italiener und mindestens der Hälfte der linken Wähler.
Ist die Informationsfreiheit in Italien noch gegeben?
Die Situation ist noch im Rahmen der europäischen Normalität. Die politischen Talksendungen werden alle von Linken moderiert! Es gibt gar keine vergleichbaren Sendungen, die von Rechten moderiert werden. Ich finde sogar, dass das italienische TV politisch sehr viel aggressiver fragt als etwa das französische.
Berlusconi hat kürzlich eine Abstimmungsreform für das Parlament vorgeschlagen. Demnach sollen nur noch die Fraktionsvorsitzenden ihr Votum stellvertretend für ihre parlamentarische Gruppe abgeben. Was halten Sie davon?
Es klingt nach Mussolini, aber diese Lesart wäre falsch. Ich kann nicht in Berlusconis Kopf schauen, aber ich glaube, dass dieser Vorschlag ein subversiver war. Berlusconi gibt hier eine simplizistische Lösung für ein reales Problem, nämlich des in der Tat zu langen und zu umständlichen parlamentarischen Procederes in Italien. Natürlich heißt das, das Kind mit dem Bade aus zuschütten. Die meisten Leute haben aber nun mal keine politische Kultur der Institutionen. Berlusconi hat sie ja auch nicht. Deswegen kann er ja den Anti-Politiker so gut verkörpern.
Was ist mit dem Teil der Gesellschaft, den man hierzulande Bildungsbürgertum nennt - wählt und arbeitet der auch für den "Cavaliere", und warum?
Man kann nicht für Berlusconi arbeiten, ohne sein Sklave zu werden. Entweder du gehorchst oder du gehst. Das ist seine Managermentalität. Deswegen wird er auch nie eine echte politische Partei gründen können, mit gemeinsamen Ideen und Werten. Warum wählt ein Teil des Bildungsbürgertums Berlusconi? Weil sie absolut nicht mehr für die Linke stimmen können, die keine Ideen hat für das Land. Berlusconi macht wenigstens was - das ist der augenblickliche Gemütszustand dieser Leute.
Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie in Berlusconi keine Gefahr für Italien. Wie ist es mit dem in Deutschland viel - und auch oft genug folkloristisch - diskutierten Aspekt der organisierten Kriminalität?
Das ist das schlimmste Unglück: Die Präsenz des organisierten Verbrechens in ganzen Regionen. Und dazu die Tatsache, dass ein großer Teil der Bevölkerung dieser Regionen in gewissem Sinne Komplizen dieses Verbrechens sind. Sie fordern nicht den massiven Einsatz des Staates, auch nicht die politischen Kräfte, weder die Linke, die dort zumeist an der Regierung ist, noch Mitte-Rechts. An einem bestimmten Punkt wird der Norden das nicht mehr akzeptieren, auch nicht auf einer institutionellen Ebene.
Aber der Giftmüll, der in Campanien auf den Feldern verbrannt und ,entsorgt' wird, kommt doch auch aus dem Norden!
Das ist eine demagogische Feststellung. Wenn man mir die Gelegenheit gibt, von einer Situation zu profitieren, dann profitiere ich. Aber ich bin nicht der Verantwortliche. Was Sie sagen, ist wahr. Aber die Präsenz der Camorra in Campanien, die dieses Müllgeschäft organisiert, kann man nicht der Industrie des Nordens anlasten.
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