Zeit der Ostermärsche: Wiederauferstehung des Fußvolks
Beten, singen, laufen: An den Ostertagen sollen Massenproteste nicht nur ein Ende der Atomkraft, sondern auch die Wiederbelebung der Friedensbewegung bewirken.
Nix Eiersuchen. Nix Rumdösen. Während Christen in Deutschland am Wochenende die angebliche Auferstehung Jesu feiern, arbeitet auch die deutsche Friedensbewegung an ihrer Wiederbelebung: Über 200 Veranstaltungen, 80 Ostermärsche und Massenproteste an 12 Atomstandorten das ist das reichhaltige Protestprogramm für das Osterwochenende. Mit Innehalten wird das nix.
Denn 25 Jahre nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl und so kurz nach dem Schock von Fukushima – politisieren sowohl die Kirchen wie auch hunderte Anti-Atom- und Friedensinitiativen gemeinsam das Osterfest mit einer klaren Botschaft: Einfach weiter so geht nicht.
Das christliche Fest sei eine Chance für einen Neuanfang, sagt der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, Friedrich Weber. Und während in vielen Gotteshäusern am Wochenende die Beherrschbarkeit der Atomkraft und der Libyenkrieg ein Thema sein dürfte, sollen die Feiertage auch außerhalb der religiösen Sphären für Aufbruchstimmung sorgen.
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Tschernobyl ist die größte Katastrophe der Industriegeschichte und wird es hoffentlich auch bleiben. Doch die Energie der Atomkerne ist etwa eine Million Mal stärker als die des üblichen Feuers und hat deshalb immer wieder unerwartete Schäden angerichtet. Was genau 1986 in Tschernobyl passiert ist und wie viele Menschen vor Ort als Liquidatoren eingesetzt waren, wird nach wie vor in Moskau geheim gehalten. Die Zahl der Liquidatoren liegt zwischen einer halben und einer ganzen Million Menschen.
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Laut der Atomenergieagentur IAEO sind nur 62 Strahlentote nachgewiesen. Nach unabhängigen Berechnungen sind es jedoch mehrere hunderttausend bisher. Dabei sind es nicht nur Krebsfälle, die Tschernobyl-Opfer zu beklagen hatten; die Haupttodesursache sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Diese werden unter anderem auf das radioaktive Cäsium im Herzmuskel zurückgeführt.
Anlässlich des Tschernobyl-Jahrestages mobilisiert ein Bündnis atomkraftkritischer Initiativen bereits seit Ende letzten Jahres für den kommenden Ostermontag zu massenhaften Protesten. Dann sollen an neun Atomkraftwerken und drei weiteren Atomstandorten zehntausende, vielleicht hunderttausende Menschen auf die Straßen gehen. Erst Ende März hatten nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima spontan 250.000 Menschen bundesweit für einen sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie demonstriert. Daran wollen die Atomkraftgegner am Wochenende anknüpfen.
Allein zum Sternmarsch im südhessischen Biblis erwarten die Veranstalter über 10.000 Teilnehmer. Auch am niedersächsischen Kernkraftwerk Grohnde geht die Polizei von rund 10.000 Demonstranten aus, die dort am Montag zusammenkommen wollen. Besonders anspruchsvoll sollen die Proteste am Atomkraftwerk Esenshamm, nördlich von Bremen, werden. Dort soll eine Umzingelung des Kraftwerks auch über die Weser führen, wo Wassersportler und ein großer Ausflugsdampfer eine Protestkette auf dem Wasser bilden wollen. Zehntausende Menschen werden am Montag auch an den Atomkraftwerken Brunsbüttel, Krümmel, Neckarwestheim, Grundremmingen, Philippsburg, Grafenrheinfeld und Grohnde erwartet.
Protest auf 11 Rheinbrücken
Im Dreiländereck zwischen Deutschland, der Schweiz und Frankreich wollen Atomkraftgegner darüber hinaus auch grenzüberschreitend auf 11 Rheinbrücken demonstrieren. Am französischen Atomkraftwerk Cattenom werden rund 5.000 Atomkraftgegner aus dem Saarland, aus Rheinland-Pfalz und Belgien erwartet.
Daneben wird am Ostermontag auch am Schacht Konrad im Braunschweiger Land demonstriert sowie am Zwischenlager Lubmin in der Nähe von Greifswald. Dort werden die Proteste von einem dreitägigen Demonstrationszug eingeleitet: In einem Protesttreck vom Schweriner Landtag zum Zwischenlager Lubmin sind von Karfreitag bis zum Ostermontag Demonstranten mit Fahrrädern, Traktoren und Autos gemeinsam unterwegs.
Weil Atomkraftgegner so massenhaft wie selten zuvor auf die Straßen strömen, erhofft sich auch die deutsche Friedensbewegung erhöhten Zulauf zu ihren traditionellen Ostermärschen, die ergänzend zu den Protesten am Montag über das gesamte Wochenende an rund 80 Orten stattfinden sollen. Auch dort steht neben dem Afghanistan- und dem Libyen-Krieg das Thema Atomkraft im Mittelpunkt des Protests. An der nordrhein-westfälischen Urananreicherungsanlage Gronau gehen Friedens- und Anti-Atom-Initiativen am Montag explizit gemeinsam demonstrieren. Bei zahlreichen weiteren Veranstaltungen haben Anti-Atom- und Friedensaktivisten einen „Redneraustausch“ vereinbart. Betont werden soll dabei auch der Zusammenhang zwischen der zivilen und militärischen Nutzung der Kerntechnologie. Die Idee: Gemeinsam sind wir stärker. Das klingt doch irgendwie nach Jesus. Und zum Wetter passt es auch.
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