: Zeige deine Pflaster!
Das Leben mitschreiben und an die Kollegen austeilen: Peter Rühmkorfs rücksichtslose Tagebücher ■ Von Thomas Groß
Es kommt der Tag, da will die Säge sägen. Schon wieder keine Erwähnung bei den Weihnachtsempfehlungen der Zeit, schon wieder machen die Rezensenten einen weiten Bogen um einen. Handke, Strauß und Ulla Hahn toppen die Charts, während unseren Autor auf dem Rückflug von der Frankfurter Buchmesse 1990 bloß „unendliches Verlangen“ plagt, „etwas Freundliches über mich in der Zeitung zu lesen“.
Da ist irgendwann mal Schluß mit lustig, und aus der lyrischen Verschlüsselung tritt – „Es ist der Haß doch wohl noch erlaubt, oder wie?“ – ein Racheengel. Mit selbsterteilter Lizenz läßt er seine Urteile über den Literaturbetrieb blitzen. Martin Walser: „gesamtdeutsche Dröhntüte, pastoses Zeug wie aus der Majonäsetube“; Wolf Biermann: „präpotent“; Hellmuth Karasek: „etwas eunuchial verquollen“, „das Wissen oben ganz flach gestapelt“; Marcel Reich-Ranicki: „kleppert mit seinem Cromarganbesteck“, ein „Eitelkeitshansel“, der „sein Allerweltswissen immer noch für exklusiv hält“; Nobelpreisträger Octavio Paz: „ein überfeierter Autor“.
Schreibt so ein zorniger Newcomer? Ein Paria, der nie auf einen grünen Zweig kam? Nein, es ist Peter Rühmkorf, recht wohlsituiert in Hamburg wohnhaft, selbst seit bald 40 Jahren mit im Betrieb – ein Honoratior im Grunde, den auf seine alten Tage ein verirrter Punk-Impuls durchfahren hat. „Tabu I“ heißt das 618 Seiten starke Konvolut aus tagebuchartigen Notizen, poetologischen Überlegungen, eingestreuten Gedichten, Aufsätzen, politischen Meinungen und diversesten Beobachtungen, das der 65jährige Arno- Schmidt-Preisträger nach längerem Zögern zum diesjährigen „Bücherherbst“ herausgebracht hat.
Große Bescherung – ein Werk, das von vornherein keinen Zweifel läßt, wie sehr das Ressentiment an ihm mitgeschrieben hat. Rühmkorf fühlt sich trotz förmlicher Ehren als „Hamburgensie“ und Lyrikfabrikant übergangen, totgeschwiegen, von literarischen Saisonartiklern an den Rand gedrängt – „wenn deine Feinde wenigstens nur ganz flache Orgasmen hätten“. Aber nein, sie amüsieren sich ja prächtig, treffen sich aus allerlei Anlässen zum geselligen Räucherfischverzehr, nehmen zu an Bedeutung und Gewicht, während er selbst, auch in einem ganz physiologischen Sinne, immer dünner und weniger wird.
Bloß an Buchstaben, da nimmt auch er zu. „Tabu I“ ist nur ein schmaler Auszug aus mittlerweile 15.000 Seiten, die Rühmkorf seit 1971, dem Ende seiner Autobiographie „Die Jahre, die ihr kennt“, vollgeschrieben hat – vor den spartanischen Mahlzeiten, wenn „auf dem Bier so ganz langsam die Schaumkrone zerknistert“, auf fremder Leute Toilette, während Feten oder nachts zu Hause. Ursprünglich als Vorarbeit zu einem großangelegten Zeitroman gedacht, in dem eine Figur namens „Hans am Rande“ am Faden ihrer Erfahrungen mit dem Literaturwesen pikaresk die Geschichte der Bundesrepublik aufrollt, verselbständigen sich die Notizen 1989– 1991, zur kritischen Zeit der „Wende“ (zugleich der veröffentlichte Berichtszeitraum), zum dünnen Faden, der den Autor noch mit sich, seiner Produktion und seiner Zeit verknüpft. Die neue Dekade hin zu den Neunzigern, das sind die Jahre, die ihr nicht mehr kennt. Und immer stärker drängt sich in den Vordergrund, was man als Leser von Anfang an begreift: daß das nicht Vorarbeit, sondern eine eigene, unerhörte, wenngleich prekäre, unter den Eindrücken zerrinnende Form ist – Ansichten eines Weltstenographen und Lebensmitschreibers.
In dieser Mission sieht Rühmkorf die Elbe vor dem Arbeitszimmerfenster vorüberziehen („jede Welle des Mitschreibens wert“), aber auch die DDR verschwinden, die Sowjetunion kollabieren, ethnische „Konflikte“ in Georgien und Jugoslawien ausbrechen, wahrnehmbar nur noch im Spiegel der Zeitungen und vom heimischen „Knibbelkino“ (dem Fernseher) aus. Als Hans am Rande erlebt er den Golfkrieg, das Massaker auf dem Tiananmen- Platz, Genschers Rede auf dem Balkon der Prager Botschaft, und es ist ein „Gefühl, als ob die Weltenuhr einen imaginären Zeitsprung nach vorn gemacht hätte und der eigene Wirklichkeitssinn käme nicht mehr geschichtssynchron mit“. Und immer wieder der Reflex aufs Bekannte, die Kollegen. Heiner Müller: „Eigenartig starres Eulenspiegelgesicht, beinah Maske“; Rolf Hochhuth: „deutsch-deutsches Janus-Gesicht; eine Leidenshälfte und eine selbstgerechte imperiale“; Günter Grass: „Sah alt geworden aus und trug sich widerborstig: Augen zu Sehschlitzen verkniffen, Siebentagebart um Kinn und Backen, der Mund mit der vorgeschobenen Unterlippe wie eine verklemmte Schublade.“
Solche – teils aus nächster Nähe gewonnenen – Notate werden dem Autor das erste Etappenziel sichern: nicht „nur“ als Reimeschmied und Paperbackwriter („Dear Sir or Madam, will you read my book, it took me years to write, will you take a look ...“) wahrgenommen zu werden. „TabuI“ ist das Dokument einer Kommunikationserzwingungsstrategie: Deckung fallen lassen, Schweigeabkommen aufkündigen, schon zu Lebzeiten ungeniert von lebenden Personen berichten, ich will einen Hit – mit dem paradoxen Ergebnis allerdings, daß die meisten von ihnen unmöglich mehr freundliche Worte über das Werk in Zeitungen hineinschreiben können.
Doch „Tabu I“ ist weit mehr als ein Schlüsseljournal zur Verfaßtheit des deutschen Umgangs mit Büchern. Rühmkorf über einen Leseabend mit Marcel Reich-Ranicki:
„Interessant, daß sich R. vor unserem Aufbruch noch einmal rasierte, was mir gänzlich unnötig erschien. Seine Begründung, so makaber wie anrührend, daß man sich im Ghetto ,immer zuerst die verwahrlosten Gestalten herausgesucht‘ habe (er benutzte genau dies häßliche Klischee, allerdings mit einem ganz leichten Zögern), um sie dann ins Gas zu schicken. Also auch hier die frühen Konditionierungen / Prägungen. Wer in einem Schwefelsumpf aufgewachsen ist, wird den Geruch ein Leben lang nicht aus der Nase verlieren. [...] Auffällig auch diesmal wieder seine Nervosität, wenn ein Gesprächsfaden sich eigentlich abgespult hat und er für Sekunden die eigene Stimme nicht mehr hört. Als im Taxi kurzfristig Ruhe eingekehrt war und er offenbar meinte, die Welt habe aufgehört zu existieren: ,Hhhhmmmmmmm – jäääää – ja – ja – ja – ja – mein Lieber – sagen Sie –‘ (dazu automotorisierendes Schenkelgeklopfe und Fingergetrommel auf dem heftig resonierenden Handschuhfach) – aber es stand offenbar gar kein dringlicher Gedanke dahinter, nur eine unspezifische Wortergreifungsautomatik.“
Selten wurde in so wenigen Zeilen so viel über MRR gesagt, und das auf eine Weise, in der das bloße Ressentiment sich durch die Schärfe der Beobachtung selbst in der Schwebe hält. In „Tabu I“ stürzt sich ein lebenslang an der Kurzform geschulter Autor auf die Erscheinung, um sie in einer Krisensituation durch close writing lesbar zu machen. Gelegentlich kommt es dabei zum „Aha-perçu“, öfter bleibt es bei der Such- und Tastbewegung. Diese allerdings erfaßt das Privateste ebenso wie die einlaufende Nachricht, sie beginnt beim einsamen Haschischrausch in der Nacht und hört bei der deutschen Vereinigung nicht auf.
Manches, was Rühmkorf zur politischen Lage einfällt, ist präzisest beobachtet (und durch die Zeit seit 1990 bestätigt). Er erlebt die erste Stürmung der Supermärkte durch DDR-Bürger und bemerkt: „Wenn ich selbst einen Staat zur Verfügung hätte, würde ich dessen Volksauto aber ganz gewiß nicht Trabant (d. h. Mitzügler, unselbständiger Begleiter) nennen.“ Anderes bleibt dubios bis erschreckend. Für Saddam Hussein, meint er, hätte sich eine „käufliche Kugel“ finden lassen müssen, die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung in China wird mit dem Hinweis auf einen drohenden Bürgerkrieg abgeglichen – beides Figuren, in denen „linkes“ Denken (die Möglichkeit eines Tyrannenmords ebenso wie ein politischer Meliorismus, der Freiheit nicht nur als Befreiung zum Kapitalismus versteht) sich mit Revolverphantasien berührt.
Es geht ihnen allerdings auch das Eingeständnis voraus, „im rechten linken Glauben“ nicht länger zweifelsfrei gebettet zu sein. Rühmkorf, der in den Fünfzigern konkret mitgründete, sich in den Sechzigern als „roter Romantiker“ sah und mit Ulrike Meinhof diskutierte, in den Siebzigern Trotz- und-Trutz-Zeilen schrieb („Bleib erschütterbar und widersteh“), in den Achtzigern endgültig im sozialdemokratischen Hafen einlief, gesteht sich ein, mit seinen Glaubenssätzen, Milderungsstrategien und Rückzugsmanövern in den beginnenden Neunzigern am Ende zu sein – ganz zu schweigen von der Enttäuschung darüber, „an keiner Unfallstelle mehr Partei ergreifen zu können“.
Diese Enttäuschung ist natürlich alles andere als singulär – einen linken Renegaten ergibt sie hier trotzdem nicht. Was PR an MRR bekämpft, ist die Neigung, Zweifel und Begriffsmangel durch forcierte Lautstärke zu überdröhnen; und was er den Kollegen ankreidet, enthält stets auch die Weigerung, sich mit den bereitgehaltenen Rollen abzufinden: Bescheidwisser / Talkshowplauderer / Wichtigheimer (gerne mit Rechtsdrall) auf der einen, Schöngeist/ Ästhet / „Sprachakrobat“ auf der Verliererseite. „Tabu I“ ist, trotz mancher Nähe, aber auch ein Anti- Grass. Wo der Altsozi Günter Grass sich immer noch in der angetragenen Rolle des Großromanciers gefällt, läßt Rühmkorf das weite Feld weit sein; wo Grass seine Ressentiments gegen den Gang der Dinge und die deutsch
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deutsche Vereinigung nur mühsam auf das Romanpersonal verteilen kann, beschränkt Rühmkorf sich radikal auf die „öffentliche Demonstration von Gedankenarbeit am aufgeklappten Gehirn“.
In dieser Hinsicht ist Rühmkorf tatsächlich ein Nachfolger Lichtenbergs (dem er einige Passagen gewidmet hat) und „Tabu I“ ebenso ein privates (Anti-)Geschichtsbuch wie ein öffentlicher Seelenkalender. Ein schwer marottöses Ich erkundet sich selbst und seine Lage im Medium der Schrift, spielt Gedankenspiele, haßt sich locker, schreibt sich frei, im günstigsten Fall sogar in einen Rausch. Denn obwohl im „Tagebuch – Klagebuch – Untertagebuch“ viel von Tablettenüberhängen, Depressionen und Phasen der Magersucht die Rede ist, besteht der entscheidende Zugewinn gegenüber den Rühmkorfschen Gedichten im Rhythmus der Niederschrift selbst. Schreiben heißt hier genauso sich ausdehnen wie sich dünn machen, präsent sein in der Engführung der Schrift. Wenn es nur gelingt, die Welt genau genug anzupacken, wird das Hinsetzen von Buchstaben auf Papier plötzlich wieder körperhaft wie Atmen – wie „wenn jemand einfach so inspiriert vor sich hinschnauft“.
Der Text als physiologischer Befreiungsversuch und Faustkampf gegen den Rest der Welt? In gewisser Weise ist dieses Schreiben auf der Suche nach seinem Paradies – was nicht heißt, daß es von dunklen und mächtigen Antrieben frei wäre. Wo der Schreibfluß in die Vergangenheit taucht, zeichnet sich das Bild eines energischen Hungerkünstlers ab, der die Gegenwart immer wieder neu verwirft, weil er an einer bestimmten Urszene festhält. Psychologisch gesehen ist es die Ablehnung der Vater-, Männer- und Chefrolle zugunsten „mütterlich“-ästhetischer Artikulation, historisch gesehen ist es die Fixierung auf die Hungerphysiognomie des frühen Nachkriegsdeutschland (die mit dem Entschluß, Schriftsteller zu werden, zusammenfällt). Die „frühen Konditionierungen“ eben.
Rühmkorf hat 1961 eine Monographie über den Kriegsheimkehrer Wolfgang Borchert geschrieben. Aus dem Abstand von 16 Jahren zum Kriegsende setzt sie sich einfühlsam und kritisch mit dem „Allroundenttäuschten“ Borchert und dessen Figur des Beckmann auseinander. Es gibt in „Tabu I“ aber auch deutliche Indizien dafür, daß die Identifikation mit der jugendlichen Jammergestalt nie aufgehört hat. Rühmkorf sieht es am eigenen Leib: Nur scheinbar ist er der allseits respektierte, über 60jährige Schriftsteller. In Wirklichkeit hockt in ihm ein Mann aus Haut und Knochen, Gespenst und Klabautermann, der die fetten Lebenden mit seinem Knochengeklapper um den Schlaf bringt. Was er anmahnt, ist kaum noch wahr: eine Neuorientierung, die in der „Stunde Null“ nicht stattgefunden hat und in der „Wende“ gänzlich unterzugehen droht (da kann er klappern, bis er schwarz wird).
Der Hungerkünstler hat aber auch einen positiven Zwilling: den fahrenden Sänger. „Aber wir glaubten doch [...] (und nicht unmarxistisch) an die Gewalt des emanzipatorisch vorgreifenden Bewußtseins, an die Zersetzbarkeit der falschen Ideologien und ihrer Träger, kurz an die Macht des Gesangs“, heißt es 1971 in „Die Jahre, die ihr kennt“. Diesen Gesang hat Rühmkorf genauso hartnäckig wie den Mann mit der Gasmaskenbrille in sich heraufbeschworen, am offenkundigsten in seinen „Jazz & Lyrik“-Tourneen, mit denen er noch 1990 die sich verdünnisierende DDR bereiste.
Ich muß gestehen, daß mir, dessen Adoleszenz in die Siebziger fiel, dieser Ansatz immer als Musterfall sozialdemokratischer Pfeifenraucherkultur verhaßt war. Erst beim Lesen von „Tabu I“ habe ich begriffen, wie sehr das auch ein hilfloser Versuch war, sich an das schwindende „Volksvermögen“ (Rühmkorf) anzukoppeln. Als Sänger will der Autor die Frauen antörnen, die Männer beeindrucken, die Massen auf den Pfad von Freiheit und Schönheit lenken – er will im besten Sinne populär sein. Jazz & Lyrik, Gesang & Sozialismus: Alles ist bei Rühmkorf genau besehen nach musikalischen Prinzipien organisiert, alles – Anspielungen, Moritatenfundus, Traditions-Rip-Off, noch der niedrigste Kalauer – hat eine Entsprechung in der Welt des Pop. Die Doktorarbeit über „DJ- und Samplingtechniken in der Lyrik Peter Rühmkorfs“ sollte noch heute begonnen werden.
Tragisch ist, daß „Tabu I“ so viel besser ist als alles, was Rühmkorf zuvor geschrieben hat. Das Spitzfingrige, Obereloquente, Leitartiklerische, das Fischen nach Pointen ist verschwunden zugunsten eines freien, prosodischen Gesangs, Hungersound und Ausschweifung in einem.
Untragisch dagegen, daß es nie zu spät ist, daß Peter Rühmkorf ein wunderbares und wagemutiges Buch geglückt ist; daß die gereifte Existenz dann doch nicht mehr jeden Phantomschmerz mit einem Aufschrei beantworten muß. Statt „Zeige deine Wunde“ lautet das Motto „Zeige deine Pflaster“. Der Dichter ist selbstverständlich Nummer-eins-Feind der Verhältnisse, aber auch Humorist seiner selbst: Live hard? Aber immer. Die young? Nicht mit mir!
„Und war aufs Ganze – Welch ein Wunder! / Ein pumperlgsunder Hypochunder.“
Peter Rühmkorf: „Tabu I. Tagebücher 1989–1991“. Rowohlt Verlag, 623 Seiten, geb., 54 DM
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