: Zeichen der Moderne
Norman Naimark zeichnet in seinem großartigen Buch „Flammender Hass“ die Geschichte der ethnischen Vertreibungen in Europa nach
VON MICHA BRUMLIK
Das Unwort „ethnische Säuberung“ ist der deutschen Öffentlichkeit spätestens seit den Kämpfen zwischen Serbien und der albanischen UÇK bekannt. Der darauf folgende Krieg der Nato gegen Serbien sollte schließlich auch damit legitimiert werden, weitere „ethnische Säuberungen“ zu verhindern. In der Sache geht es freilich um politische Verbrechen. Sie erschütterten den europäischen Kontinent und sein Anrainergebiet seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder und trugen dazu bei, eine gesamteuropäische Gedenkkultur zu etablieren.
Das Thema ist brisant, wie die Auseinandersetzung um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ belegt. Dabei geht es um die Frage, ob man hier vor allem das Leiden der nach 1945 vertriebenen ethnischen Deutschen darstellen soll – oder ob man nicht aller europäischen Vertreibungen seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gedenken müsste.
Norman M. Naimark, Professor für Geschichte an der renommierten Stanford University, hat nun mit seiner Studie „Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert“ eine große Erzählung vorgelegt. Sie könnte als Basis für ein nicht mehr nationalstaatlich begrenztes Gedenken taugen, ohne dabei irgendetwas von dem, was Deutschen widerfahren ist, zu leugnen. Freilich funktioniert diese Geschichte nur, wenn man die Vorgängerin der heutigen Türkei, das Osmanische Reich, zumindest zum politischen Raum der europäischen Großmächte zählt.
Unter dieser Bedingung erweist sich: Der 1915 von der jungtürkischen Führung des Osmanischen Reiches an den Armeniern begangene Genozid ist jene Blaupause, die in den nächsten achtzig Jahren sämtlichen in Europa begangenen Genoziden und Vertreibungsverbrechen zu Grunde liegt. Die rassistische jungtürkische Führung verdächtigte die gesamte armenische Bevölkerung des Osmanischen Reiches, sie stehe in hochverräterischer Weise auf Seiten des russischen Kriegsgegners. Daraufhin wurden hunderttausende von Armeniern aus ihren Häusern gejagt und mit Eisenbahnwaggons oder zu Fuß ohne Essen und Trinken in die syrische Wüste getrieben.
Typisch für dieses Verbrechen war, dass sich in diesem Fall „Genozid“ und „Vertreibung“, die dreißig Jahre später kodifizierten völkerstrafrechtlichen Tatbestände, nicht klar voneinander trennen lassen. Während es beim Genozid um die vorsätzliche Tötung eines Teiles oder einer ganzen ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe geht, liegt die Absicht der „ethnischen Säuberung“, so Naimark, „in der Entfernung eines Volks und oft auch aller seiner Spuren von einem bestimmten Territorium“.
Letztlich unterscheiden sich „ethnische Säuberung“ und Genozid durch das Ziel: Entwurzelung oder Tötung. Allerdings kann beides fließend ineinander übergehen. „Ethnische Säuberungen“ können – wie im Fall der Armenier – in einen Genozid münden. Genozide wiederum können – so bei den nationalsozialistischen Judenmorden – Vertreibungen und Aussiedlungen zur systematischen Voraussetzung haben. Der armenische Genozid jedenfalls blieb im kollektiven Gedächtnis Europas nicht nur als Leidensgeschichte, sondern auch als Vorbild haften.
Das Ende des Ersten Weltkrieges und die ersten Jahre danach sahen im Zuge der Konsolidierung der modernen Türkei und in Abwehr des großgriechischen Imperialismus eine beschönigend „Bevölkerungsaustausch“ genannte wechselseitige Vertreibung: 1,5 Millionen anatolische Griechen werden durch Kemal Atatürks Truppen ebenso vertrieben wie im Gegenzug etwa 350.000 mazedonische Türken.
Nach dem Ersten Weltkrieg legitimierte der Vertrag von Lausanne (1923) diese wechselseitigen Vertreibungen völkerrechtlich. Die Wirkung des Vertrages als eines negativen Vorbilds kann nicht überschätzt werden: Mit ihm wurde quasi das Recht von Staaten auf ethnische Homogenität ebenso festgeschrieben wie die begrenzte Legitimität von gewaltsamen Aussiedlungen.
Die Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden durch die Deutschen interessiert hier insoweit, als sich die Nationalsozialisten zunächst mit der Vertreibung der Juden aus ihrem Herrschaftsgebiet zufrieden gaben. Erst im Überschwang der ersten Siege gegen die Sowjetunion fassten sie im Spätsommer 1941 den Entschluss, alle Juden umzubringen.
Es liegt nahe, dass Naimark zudem die stalinistische Deportationspolitik gegenüber Tschetschenen, Inguschen und Krimtataren an dieser Stelle integriert, denn sie wurde unter dem Vorwand der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Aggressor exekutiert. An diesen „kleineren“ Verbrechen wird vor allem deutlich, was die Genozidforschung später auch im Fall der Roten Khmer zeigte: dass nämlich die vermeintlich egalitären und universalistischen Klassenkategorien des Marxismus dort, wo sie in die Beseitigung ganzer gesellschaftlicher Gruppen münden, in Rassismus umschlagen.
Rein quantitativ stellte die Vertreibung von etwa 11,5 Millionen ethnischen Deutschen aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien, aus Ungarn, Rumänien und Jugoslawien das größte Verbrechen dieser Art dar. Dessen Beurteilung stellt freilich nicht nur die historische Forschung vor besondere Probleme – ist doch ganz unzweifelhaft, dass es dazu nie gekommen wäre, hätten Hitler und seine Generäle Ostmitteleuropa nicht mit einem Rassenvernichtungskrieg überzogen.
Nationalistische Kräfte einschließlich der jeweiligen Exilregierungen reagierten schon früh auf die Erfahrungen der deutschen Besatzungsherrschaft mit „Aussiedlungsplänen“, die die Zustimmung nicht nur der Sowjetunion, sondern eben auch Großbritanniens und der USA fanden. Unter Berufung auf den Vertrag von Lausanne beglaubigten die Alliierten in Potsdam die bereits erfolgte Vertreibung.
Eine im Entstehen begriffene europäische Gedenkkultur sollte nun nicht davor zurückscheuen, sich bei aller entstehenden moralischen Sensibilität auch einen nüchternen sozialwissenschaftlichen Blick zu bewahren. Naimark zeigt überzeugend, dass „ethnische Säuberungen“ genuiner Ausdruck einer Moderne sind, die vom Gedanken des ethnisch homogenen Nationalstaats ebenso geprägt ist wie von einer ungeheueren Kumulation technischer Mittel. Ohne Eisenbahn, Telegraf, Stacheldraht und Maschinengewehr wären weder „ethnische Säuberungen“ noch Genozide möglich gewesen.
Vor allem aber wird deutlich, wie sehr staatliche Verbrechen sich aufs biologische Geschlecht beziehen. Während konventionelle Kriege noch bis 1918 vor allem eine Angelegenheit unter Männern waren, zeichnen sich „ethnische Säuberungen“ primär durch Gewalt gegen Frauen aus: Systematische, geradezu angeordnete massenhafte Vergewaltigungen fanden sich bei den Jungtürken ebenso wie in der Roten Armee oder den polnischen Milizen, die Deutsche „aussiedelten“.
Heute – so scheint es – kommt es im Krisenbogen von Marokko bis nach Indonesien, zwischen Sudan und Südafrika zu einer Neugründung und Neuformation von Nationalstaaten, deren Regierungen mit scheinbar naturgesetzlicher Notwendigkeit auf „ethnische Säuberungen“ verfallen.
In Europa scheinen zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts – nach dem Zerfall Jugoslawiens – die mörderischen „ethnischen Säuberungen“ ihre Zeit gehabt zu haben. Ob Europa aus einer leidvollen Geschichte wirklich etwas gelernt hat, wird sich nicht nur an einer auf Wahrhaftigkeit zielenden Gedenkkultur erweisen, sondern auch daran, ob ihm angesichts absehbarer und drohender Genozide andere politische Konzepte einfallen, als die „humanitäre Intervention“, die jedenfalls im Kosovo die Vertreibung erst richtig ermöglichte.
Norman M. Naimark: „Flammender Hass“,301 Seiten, C. H. Beck Verlag, München 2004, 26,90 Euro