hamburger szene : Zehn Sekunden
Seitdem ich im Hamburger Club der Wohnungssuchenden bin, interessiere ich mich für Psychologie. Stunden habe ich schon damit verbracht, meine Kontrahenten vor einer x-beliebigen Haustür in Altona, Eimsbüttel oder Barmbek zu beobachten und zu klassifizieren.
Es gibt den Anfänger-Typ: meist ein Vater, der seine flügge gewordene Tochter bei ihrer ersten Wohnungsbesichtigung begleitet. Die beiden reden nie viel. Typ zwei ist da schon gesprächiger: eine Frau Anfang 40 mit verrückter Brille und keiner Spur von Schüchternheit. Während die anderen Bewerber den Noch-Mieter umschwänzeln (Typ drei), misst sie schon mal die Küche für ihren Eckschrank aus.
Typ drei hingegen ist voll und ganz mit dem Aufbau einer freundschaftlichen Beziehung zum späteren Vormieter beschäftigt, in der Hoffnung, sein guter Ruf dringe bis zum Verwalter durch.
Da betritt Typ vier den Dielenboden der schnuckeligen Zwei-Zimmer-Wohnung mit Balkon und Einbauküche: die Abgeklärte. Sie vergewissert sich schnell, ob die Decke nicht schimmelt, geht schnurstracks auf die Traube um den Mieter zu, verlangt die Nummer des Vermieters und ist schon wieder weg. Das alles dauert zehn Sekunden.
Ich habe es ausgerechnet: Bei dieser Geschwindigkeit schaffe ich 20 Wohnungen am Tag. Einen Schlüssel habe ich trotz abgeklärter Suche immer noch nicht erhalten. Vielleicht ist es ja an der Zeit, die Taktik zu ändern.
UTA GENSICHEN