Zapfenstreich für Christian Wulff: Tschingderassawulff
Der ehemalige Bundespräsident wird mit dem Großen Zapfenstreich verabschiedet. Die taz präsentiert die Stücke und erklärt, was die Auswahl über Wulff sagt.
„Ode an die Freude“
Malträtiert von einer Bürokratenvereinigung namens Europäische Union, missbraucht für unzählige Werbespots, zweckentfremdet zur Eröffnung von Olympischen Spielen, Gartenfesten und Friseursalons, ist das Finale von Beethovens 9. Sinfonie samt der Verse von Schiller zu einem Gassenhauer verkommen – ähnlich wie die Soulklassiker von Aretha Franklin, die man nicht mehr hören kann, ohne in Gedanken ein Bier zu bestellen oder im Auto sinnlos im Kreis zu fahren.
Und doch gehört dieses Stück voller Zuversicht, Tatendrang und Sinnesfreude zum Besten, was die deutschsprachige Lyrik jemals hervorgebracht hat. Pathetisch gewiss, aber glaubwürdig und deshalb ergreifend. Es geht um Aufbruch, um Revolution, um ein rätselhaftes Elysium.
Was aber hat das mit Wulff zu tun? Will er uns damit ein fröhlich-trotziges „Leckt mich am Arsch“ entgegenschleudern? Geht es ihm, wie seine letzten Fans aus dem Duisburger Moscheeverein vermuten könnten, um das Motiv der Verbrüderung? Oder, wie mäßig begabte Kabarettisten nun kalauern werden, um das Umschlingen der Millionen? Spielt „eines Freundes Freund“ auf Carsten Maschmeyer an?
Empfohlener externer Inhalt
Nichts von alledem. Die Dinge sind, wie immer bei Wulff, entsetzlich banaler: Was Klassisches wäre gut, wird er gedacht haben. Was von Beethoven. Das Ba-ba-ba-baaaam. Oder doch lieber das andere, das mit der Freude. Das kennt jeder, da kann jeder mitsingen und mitschunkeln. Wie auch er gerne ein Präsident zum Mitschunkeln gewesen wäre. Ein Dutzendgesicht. Einer von uns halt.
„Alexandermarsch“
Das Niedersachsenlied („Wir sind die Niedersachsen / Sturmfest und erdverwachsen“) hat sich Wulff aus naheliegenden Gründen nicht getraut. Stattdessen wählt er diesen, von einem gewissen Andreas Leonhardt komponierten preußischen Militärmarsch aus dem 19. Jahrhundert, um zu demonstrieren: Ich kann auch zackig und kernig und männlich Tschingderassabumm! Ich kann auch scheppernd und donnernd und krachend! Ich kenne die Traditionen dieses Amtes und bin seiner würdig.
Empfohlener externer Inhalt
Und ich hätte den Politikern noch den Marsch geblasen, wenn man mich nur gelassen hätte! Ich bitte, das im Protokoll zu vermerken!
„Somewhere Over the Rainbow“
Kitsch. In der Coverversion des hawaiianischen Sängers Israel Kamakawiwo’ole immerhin noch Edelkitsch, grauenhafter Kitsch hingegen im Original aus dem Film „Der Zauberer von Oz“ (1939), wo eine blond bezopfte Judy Garland auf Strohballen herumturnt und sich zu einer schmalzigen Melodie in ein Land wünscht, in dem der Himmel blau ist, die Vögel übern Regenbogen fliegen und Sorgen dahinschmelzen wie Zitronenbonbons.
So hört es sich an, wenn Milchmädchen träumen, ehe sie sich vom erstbesten Schweinebauern hinter der Scheune schwängern lassen und ihre Kleinmädchenträume an ihre Töchter weiterreichen. Vielleicht will Wulff mit diesem Stück sagen, dass er lieber irgendwo anders wäre, wo das Wetter besser ist und die Menschen netter sind.
Empfohlener externer Inhalt
In seinen letzten Tagen als Präsident mag er sich das gewünscht haben, jetzt aber ist dieser Wunsch hinfällig. Denn weg vom Fenster ist er sowieso. „Somewhere Over the Rainbow“ ist daher bei Wulff kein Sehnsuchts-, sondern eine Klagelied: Die böse Welt hat mich aus meinem süßen, unschuldigen Traum gerissen, wo der Himmel blau war und ich sein Präsident. Oder umgekehrt. Auf jeden Fall war es schön. Wieso kann ich nicht dorthin zurück? Schnüff!
"Da berühren sich Himmel und Erde"
Christoph Lehmanns Kirchenlied aus dem Jahr 1989 gehört, wie Kenner der Materie versichern, zu den besseren des Genres. Aber es bleibt, was es ist: ein Kirchenlied. Wulff aber läuft mit dieser Wahl noch einmal zu großer Form auf: Wo eine schlichte Dudelmelodie auf Kirchentagsromantik trifft, sich „schenken“ auf „bedenken“ reimt und „verbünden“ auf „überwinden“, da ist er wieder da, der nette Schwiegersohn, der kleine Christian aus Osnabrück, der ganz groß herauskommen wollte, aber nie jemandem wehtun.
Empfohlener externer Inhalt
Und, so wird er sich gedacht haben: Das mit dem „neu beginnen“ ist pfiffig. Ich werde ja auch die alten Wege verlassen und etwas Neues beginnen. Hihi, wie doppelsinnig! Schade nur, dass es danach endgültig vorbei ist und sich niemand dafür interessieren wird, welche Lieder ich so mag, wem ich auf den Anrufbeanworter quatsche oder mit wem ich es sonst den lieben langen Tag treiben werde.
Donnerstag, 19 Uhr, live in der ARD, Kommentatoren: Ulrich Deppendorf und Oberstleutnant Peter Altmannsperger.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste