Zahl der Infektionen unterschätzt: Zehnmal mehr Schweinegrippe als gedacht
Das Grippevirus ist viel ansteckender als zunächst gedacht. Weil sein Verlauf oft milde ist, sind in Mexiko viele Fälle unbemerkt geblieben, schreiben Experten. Sie gehen von 23.000 Infektionen aus.
WASHINGTON dpa/taz | Die Schweinegrippe hat nach Expertenschätzungen in Mexiko mindestens zehnmal so viele Menschen infiziert wie bislang gemeldet. Nach ersten Berechnungen könnten es bis Ende April bereits 23.000 gewesen sein, schreibt ein internationales Team online vorab im US-Fachjournal Science.
Bislang sind mehr als 2.000 Fälle in Mexiko offiziell registriert. Das Virus sei deutlich leichter übertragbar als ein gewöhnlicher Grippeerreger. Weltweit sind fast 5.300 Fälle gemeldet.
Derzeit ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO zu beobachten, dass die Krankheit weitgehend mild verlaufe. In Kanada etwa hätten Infizierte noch nicht einmal Fieber, sagte die Impfexpertin der WHO, Nikki Shindo, am Dienstag in Genf.
Deswegen würden auch nicht überall mehr alle Fälle, sondern nur noch die schweren Fälle gezählt. "Die jetzt vorliegenden Zahlen geben nicht die wirkliche Zahl der Fälle wieder", sagte Shindo unter Hinweis auf die Berichte, nach denen die Zahl der Infizierten weit höher sei als bisher bekannt.
Warum es gerade in Mexiko mit 56 Toten so viele schwere Fälle gebe, sei immer noch nicht klar, sagte die WHO-Expertin. Die bisherigen Daten zeigten aber, das rund zehn Prozent aller bestätigten Fälle so schwer seien, dass sie zu einem Krankenhausaufenthalt führten.
Die Virenausbreitung sei vergleichbar mit der bei den schweren Grippe-Pandemien des vergangenen Jahrhunderts, erläuterte der Hauptautor der in Science veröffentlichten Studie, Prof. Neil Ferguson vom Imperial College in London.
Allerdings erscheine eine Erkrankung weniger gefährlich als bei der Spanischen Grippe 1918, die zu mindestens 25 Millionen Toten geführt hatte. 0,4 bis 1,4 Prozent der Erkrankten sterben nach Angaben der Forscher an der Schweinegrippe.
Aber das ist kein Grund für eine Entwarnung: Auch der tödlichen Welle der Spanischen Grippe ging eine Krankheitswelle mit demselben Virenstamm voraus, die ebenfalls milde verlief. Doch der Virus mutierte schließlich - und so entstand eine deutlich aggressivere Form.
Solche Mutationen geschehen vor allem dann, wenn ein Patient gleichzeitig mit der neuen Grippe und einem herkömmlichen Virenstamm infiziert ist. Und so könnte es theoretisch auch mit der aktuellen Schweingrippe kommen. Und das ist der Grund, warum weltweit die Experten die aktuelle Epidemie so genau beobachten.
Die Autoren das aktuellen Science-Artikels hatte den Ausbruch in Mexiko analysiert sowie frühe Daten der weltweiten Ausbreitung und die genetische Vielfalt der Viren betrachtet. Demnach könnte der Ausbruch Mitte Februar im Dorf La Gloria im Bundesstaat Veracruz an der Ostküste Mexikos begonnen haben.
Unterdessen meldeten bis Dienstagabend drei weitere Länder erstmals Fälle von Schweinegrippe: Finnland und Thailand registrierten jeweils zwei und Kuba einen Erkrankten. Damit stieg die Zahl der betroffenen Länder auf mehr als 30.
Weltweit starben 61 Menschen an dieser neuen Grippe. Wie das EU-Zentrum für Seuchenbekämpfung (ECDC) in Stockholm mitteilte, entfallen davon 56 auf Mexiko. 3 Kranke starben in den USA und je einer in Kanada und Costa Rica.
Die Zahl der bestätigten Krankheitsfälle betrug weltweit 5283, davon 2618 in den USA und 2059 in Mexiko. In Deutschland sind nach den ECDC-Angaben bisher 12 Menschen an der Schweinegrippe erkrankt. In Spanien sind bereits 100 Fälle registriert.
Europa bekämpft nach Aussagen der WHO das gefährliche Schweinegrippenvirus deutlich besser als die USA oder Mexiko. "Die europäischen Länder, die ihre Fälle zumeist importiert haben, nutzen Anti-Grippemittel weitaus aggressiver im Vergleich zu den USA oder Mexiko", sagte Shindo. Dies könnte einer der Gründe sein, warum es vergleichsweise wenige Fälle in Europa gebe.
Der Schweizer Pharmakonzern Roche spendet der WHO wegen der Schweinegrippe zusätzlich 5,65 Millionen Packungen des Grippemittels Tamiflu. In den nächsten fünf Monaten produziere das Unternehmen weitere 110 Millionen Packungen, teilte Roche in Basel mit. Bei Bedarf könne die Produktion bis Ende des Jahres auf 36 Millionen Packungen pro Monat erhöht werden.
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