Zäsur in der Türkei: Armee kapituliert vor Tayyip Erdogan
Weil der Premier nicht die Dienstzeit von inhaftierten Generälen verlängern wollte, die unter Putschverdacht stehen, trat die Armeespitze zurück. Das Militär hat damit an Macht eingebüßt.
ISTANBUL afp | Ein türkischer General bittet nicht, schon gar nicht im Gespräch mit Politikern. Doch genau das soll Isik Kosaner, bis zum vergangenen Freitag Generalstabschef der türkischen Armee, gegenüber Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zuletzt getan haben. Kosaner bat Erdogan laut Presseberichten, die Dienstzeit von Generälen zu verlängern, die wegen Putschverdachts in Untersuchungshaft sitzen. Erdogan lehnte ab, Kosaner trat zurück - und in der Türkei ist nichts mehr, wie es vor dem Rücktritt war.
Der Streit um die inhaftierten Generäle ließ den seit Jahren schwelenden Konflikt zwischen den Militärs und der Regierung in der Türkei seinen dramatischen Höhepunkt erreichen. Erdogan bestand darauf, dass unter Putschverdacht stehende Offiziere in den Ruhestand versetzt werden müssten. Da insgesamt 250 Soldaten, unter ihnen mehr als 40 aktive Generäle und Admiräle, derzeit in U-Haft sitzen, war das für die Armee ein großes Problem, vor dem Kosaner schließlich kapitulierte.
In dem Streit ging es um wichtige Prinzipien. Können Offiziere, die von der Justiz der Verwicklung in Pläne zum Sturz der Regierung beschuldigt werden, im Dienst bleiben? Wer entscheidet über Beförderungen von Generälen und Admirälen? Die Armee oder die Regierung? In westlichen Ländern sind die Antworten auf diese Fragen längst klar - in der Türkei ist das erst seit Freitag der Fall.
Noch wenige Stunden vor Kosaners Rücktritt hatte ein Istanbuler Gericht am Freitag die Anklage gegen 22 Armee-Angehörige zugelassen, die im Auftrag des Generalstabs regierungsfeindliche Websites betrieben haben sollen. Kosaner beklagte zwar, die Streitkräfte würden durch die Ermittlungen der Justiz als "kriminelle Organisation" hingestellt. Doch für eine Armee, der Propaganda und Putschpläne gegen die eigene Regierung vorgeworfen werden, ist es schwierig, sich als Opferlamm zu präsentieren.
Erdogan, erst vor wenigen Wochen mit fast 50 Prozent der Stimmen als Regierungschef bestätigt, blieb in der Konfrontation mit Kosaner unnachgiebig. Darauf erklärten der Generalstabschef und die Kommandeure von Heer, Luftwaffe und Marine ihren Rücktritt. Das Ende der Dienstzeit der Befehlshaber der Teilstreitkräfte hätte zwar Ende August ohnehin angestanden - aber sie sendeten mit ihrem Rücktritt ein starkes politisches Signal.
"Positive Schmerzen" bei der Demokratisierung
Bisher hatten in der Türkei stets die Zivilisten den Kürzeren gezogen, wenn es in einem Streit mit den machtgewohnten Militärs hart auf hart ging. Im Zweifel wurde die Regierung von den Generälen gestürzt. Doch nun behielt Erdogan die Oberhand. In der "neuen Türkei" gebe es keinen Platz mehr für den politischen Machtanspruch der Generäle, kommentierte die regierungsnahe Zeitung Sabah am Sonntag.
Der Streit um die Generäle und der Massenrücktritt der Armeespitze seien "positive Schmerzen" bei der Demokratisierung der Türkei, sagte Vize-Premier Bekir Bozdag. Staatspräsident Abdullah Gül kommentierte, die außergewöhnlichen Ereignisse vom Freitag seien in ruhige Bahnen gelenkt worden. Innerhalb weniger Stunden fanden Gül und Erdogan einen neuen Mann für die Armeeführung: Necdet Özel, 61, bisher Chef der paramilitärischen Gendarmerie.
Zusammen mit Erdogan wird Özel von diesem Montag an die halbjährliche Sitzung des Hohen Militärrats leiten, bei der über Beförderungsfragen gesprochen werden soll. Am Ende der auf vier Tage angesetzten Sitzung soll Özel offiziell als Generalstabschef benannt werden.
Die strikt säkularistischen Militärangehörigen blickten lange mit blanker Verachtung auf die religiös-konservativen Politiker herab. Doch nun haben sich die Politiker als die Stärkeren erwiesen. Weitere Protest-Rücktritte von Offizieren in den kommenden Tagen sind möglich.
Langfristig steht Özel vor der Aufgabe, eine neue Rolle für die türkischen Streitkräfte zu finden. Eine kleinere, schlagkräftigere Armee, die sich aus der Politik heraushalte - das seien die Ziele für die neue Ära, kommentierte die Zeitung Radikal am Sonntag.
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