ZUM JAHRESTAG WARTET FRANKREICH AUF NEUE KRAWALLE IN DER BANLIEUE : Lautes Bangen, stille Hoffnung
Nie zuvor waren so viele Kameras auf Frankreichs Vorstädte gerichtet. Und wohl noch nie sprachen so viele Politiker und so viele Wissenschaftler über jene suburbanen Siedlungen, die völlig zu Recht den Namen banlieue tragen: Bannmeile.
Ein Jahr nach den Krawallen, bei denen nicht nur rund 9.000 Autos, sondern vor allem der Glaube an den Erfolg des französischen Integrationsmodells zu Bruch gingen, könnte man die geballte Aufmerksamkeit für ein Zeichen dafür halten, dass aus der Krise des vergangenen Jahres die richtigen Lehren gezogen wurden. Doch in Wirklichkeit handelt es sich schlicht um Voyeurismus. Und in die bange Erwartung neuer Krawalle scheint sich mancherorts sogar leise Hoffnung zu mischen.
Ein neuer Knall in den Vorstädten käme, wenige Monate vor den nächsten Präsidentschaftswahlen, sowohl rechten als auch rechtsextremen Scharfmachern gelegen. Und auch manche Medien scheinen neue Bilder von Flammen und Gewalt für durchaus geschäftsfördernd zu halten.
Dabei hätten die sieben Millionen Bewohner der banlieues mehr Zuwendung dringend nötig. Die Umstände, die im vergangenen Jahr zur Gewaltexplosion geführt haben, sind hinlänglich bekannt und analysiert: Auf der einen Seite die Ausgrenzung und Konzentration von sozial Schwachen und Einwandererfamilien in isolierten Vorstadtsiedlungen, denen oft sogar der direkte Anschluss an öffentliche Verkehrsnetze fehlt. Auf der anderen Seite die Streichung von Subventionen für Sport-, Kultur- und andere Jugendarbeit, des massiven Arbeitsbeschaffungsprogramms für arbeitslose Jugendliche sowie die Schließung der bürgernahen Nachbarschaftspolizeistellen. Sie gingen dem scharfen, demagogischen Ton voraus, den einige Mitglieder der rechten Regierung gegenüber den banlieue-Bewohnern angeschlagen haben.
Als Antwort auf die soziale Misere hat die Regierung lediglich das Alter für den Einstieg in das Berufsleben für „Schulversager“ auf 14 Jahre gesenkt. Alle anderen Entscheidungen folgten einer fatalen polizeilichen Sicherheitslogik, die beinahe zwangsläufig zu neuer Eskalation führen muss. Ein Jahr nach den Krawallen wirkt das offizielle Frankreich noch immer paralysiert. DOROTHEA HAHN