ZITADELLE SPANDAU : Hand ab
Zwischen Nissan-Niederlassung und Schuhcenter gehen wir an der viel befahrenen Straße zur Zitadelle. Die Zugbrücke, die den Bau mit dem Spandauer Festland verbindet, ist für den Sohn viel zu klein, zu unbedeutend, eine Enttäuschung. Der Sohn beharrt auf einer Führung. Wir warten mit einer älteren Frau vom Spandauer Heimatverein auf weitere Willige. Ab sechs Leuten würde sie eine Führung machen. Mein Sohn ist der größte Ritter-und-Burgen-Fan von ganz Berlin, sage ich, und wir wären extra aus Kreuzberg angereist. Sie werde mal sehen, sagt sie und schmunzelt. Ein älteres Ehepaar trifft ein und bleibt den Rest unserer Zusammenkunft wortlos.
Die Geschichte der Zitadelle wird referiert, uns werden Kanonen präsentiert, Verteidigungslinien erklärt. Bei dem Gang durch das Innere der Wehranlage erzählt die Frau: Wer von den Arbeitern zu spät kam, wurde bestraft. Beim ersten Mal wurde die Tagesration von einem Pfund Schweinefleisch und drei Broten gestrichen. Beim zweiten Mal wurden zwei Finger der linken Hand abgeschlagen. Beim dritten Mal die linke Hand. Beim vierten Mal begann der Reigen mit der rechten Hand. Stell dir mal vor, sagt die Frau und sieht den Sohn an, wenn dir das passieren würde, wenn du zu spät zur Schule kommst. Die Führung ist nach zwei Stunden zu Ende. Der Sohn will noch eine. Komm morgen wieder, sagt die Frau.
Zurück zwischen Nissan und Schuhen. Ein abgerissener Typ betritt den U-Bahn-Waggon, kurzärmlig, die Einstichstellen in seinen Armbeugen blühen, zwei Sträuße verdammter roter Blumen. Der Sohn beobachtet ihn interessiert. Der Typ läuft zwei Schritte vor, zwei zurück und sagt: „Ich vertraue auf den Herrn Jesus Christus und ernähre mich von Astronautennahrung und bin seit 30 Jahren HIV-positiv.“ Und bleibt reglos stehen. Der Sohn sieht mich lange an und fragt dann: Was ist Astronautennahrung? BJÖRN KUHLIGK