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Archiv-Artikel

Wunderbar!Alles wunderbar!

Seit Sportminister Schily für die WM mehr südländisches Naturell bei den deutschen Dienstleistern einforderte, ging ein Groove durch die Nation. Ein Ausblick auf 2006

Ich schreie wie am Spieß, ohne Luft zu holen: Die brauche ich nämlich zum Rauchen – noch an der Glut der letzten Zigarette zünde ich mir bereits die nächste an. Zeternd erkläre ich meinem Fahrgast die Stadt, „wunderbare Stadt, mein Freund, wunderbares Land, alles wunderbar“, gestikuliere dabei wild mit den Händen und kratze mich zwischendurch ausgiebig am Sack – nur das Lenkrad rühre ich nicht an. Das Auto fährt, wohin es will – egal, denn wohin der Fahrgast möchte, habe ich sowieso schon längst vergessen. Habe ich es überhaupt jemals gewusst? Seit Stunden kurven wir ziellos durch die Stadt: Berlin, im Juni 2006.

„Äh“, kommt es vorsichtig vom Beifahrersitz, „ist es noch weit zum Olympiastadion?“

„Ah, zum Olympiastadion“, mit brüllendem Gelächter schlage ich mir die flache Hand vor den Kopf, „nein, mein Freund – gar nicht weit, mein Freund!“ Allerdings werde ich ihn nicht dorthin bringen. Ich bringe ihn lieber zu Mamma, glaube ich.

Durch das offene Dach wehen unablässig Sambaklänge herein und Kindergeschrei – die Geburtenrate ist seit 2004 um 300 Prozent gestiegen. Mit blau gefrorenen Armen rudere ich lärmend durch die Graupelschauer. „Ist Ihnen nicht kalt?“, deutet der Fahrgast schaudernd auf mein Hawaiihemd.

„Nein, mein Freund“, lache ich laut, „gar nicht kalt, mein Freund. Alles wunderbar! Wenn draußen keine Sonne scheint, mein Freund, dann scheint sie im Herzen! So ist das in Deutschland, mein Freund – so sind wir Deutschen!“

Wir waren nicht immer so. Erst als vor zwei Jahren der damalige Sportminister Schily in Erwartung der Fußball-WM mehr Optimismus und vor allem südländisches Naturell bei seinen Untertanen einforderte, ging auf einmal ein Ruck, vielmehr ein Groove, durchs Land, der freilich auch seinen Urheber hinwegfegte. Seitdem hält keine Regierung länger als zwei Wochen: Abwechselnd regieren Kommunisten, drusische Freischärler oder die rechtsextreme Liga Ost – Korruption, Wankelmut und die allgegenwärtige Kartoffelmafia prägen Staat und Politik.

Laut hupend fahre ich bei Rot mitten auf die Kreuzung, um sie gründlich zu verstopfen. Auch alle anderen haben Rot und gleichzeitig haben wir Grün – das geht, in Deutschland geht alles, wir sind wahre Meister der Improvisation. „Alles geht – wunderbar, mein Freund“, schreie ich den Fahrgast an, der sich ängstlich die Ohren zuhält. Links und rechts von uns werden von Eselskarren herunter Melonen verkauft, in der Ferne stampft der Muezzin Flamencorhythmen vom Dach einer Amselbraterei. Auf einer zwischen Fernsehturm und Forumhotel gespannten Leine flattert die Wäsche des ganzen Viertels im Wind. „Malaka!“, schreie ich los, als ich meinen Kollegen Hans-Luigi entdecke, „Kurwa! Cazzo!“ Wir drücken beide minutenlang die Hupe, dann springen wir aus dem Auto und aufeinander zu, küssen uns je fünfmal auf die linke und die rechte Wange, lachen, schwatzen – wir haben uns bestimmt seit einer Stunde nicht gesehen! „Was geht, Ulino, mein Freund?“, fragt Hans-Luigi, „come stai?“

„Wunderbar, Hans-Luigi, mein Freund, alles wunderbar“, schreie ich ihn an, „ich habe sogar einen Fahrgast.“ Er hat auch einen Fahrgast. Gegenseitig zeigen wir uns unsere Fahrgäste, schreien und lachen: „Wo will dein Fahrgast hin?“ – „Habe ich vergessen!“ – „Ich auch, wunderbar!“ – „Wunderbar, ganz wunderbar, mein Freund!“ Wir verabreden uns für nachher im Café, oder auch für morgen. Mañana, egal. Irgendwo fallen Schüsse, der Stau löst sich auf, wunderbar.

„Wo kommst du her, mein Freund?“, frage ich, als wir weiterfahren, den Fahrgast, „aus Albanien? Caramba! 8:0 in Athen! Rehagel tot! Wunderbares Land, mein Freund! Ich habe in Tirana studiert“, lüge ich munter drauflos, „sehr ordentliche, sehr fleißige Leute. Aber nicht so fröhlich wie wir Deutschen“, schränke ich bedauernd ein, „ihr müsst die Sonne in eure Herzen lassen, mein Freund!“ Ich halte vor dem Haus, wo ich wohne: „Jetzt zeige ich dir meine Mamma.“

„Das ist nicht das Olympiastadion“, beschwert sich der Albaner.

Plötzliche Stille. Quälend langsam verstreichen die Sekunden. Dann ein Geräusch – das Aufschnappen meines Messers. „Was hast du gegen meine Mamma?“, funkle ich ihn an, „sprich, du Hund, du Hurensohn, du Auswurf eines räudigen Kamels!“ Verächtlich spucke ich aus.

Der Hund ist blass geworden – er winselt: Das sei alles ein Missverständnis.

„Alles ist gut, mein Freund“, lache ich – ich bin nicht nachtragend, „du wirst sehen: Mamma macht die beste Weißwurstpaella auf der ganzen Welt, Mamma ist die beste Mamma auf der ganzen Welt, Mamma ist wunderbar!“ Überschwänglich herze und küsse ich ihn, vergesse dabei die brennende Zigarette: „Hoppla, mein Freund“, scherze ich, „das sind Wunden der Liebe!“

Oben in unserer Einzimmerwohnung bei Mamma, den zwölf Geschwistern und der fantastischen Paella vergisst unser Gast schließlich seine doofe WM.

ULI HANNEMANN