■ Wühltisch: Das Buttersiegel
Wie der Alltag funktioniert, das wunderbare Zusammenspiel von fließender Zeit und immer wiederkehrenden Handlungen, bemerkt man erst, wenn ihm etwas in die Quere kommt. Bis vor kurzem war mir beispielsweise nicht aufgefallen, daß ich am Kühlregal des Supermarkts immer nach derselben Sorte Butter greife, diese dänische in goldenem Papier. Daß wir schon sehr früh in die Ikonographie der Warenwelt eingeübt werden, die ihrerseits wieder auf tief verwurzelte Mythosbestände zurückgreift, konnte ich kürzlich an meiner kleinen Nichte beobachten. Gezielt verlangte sie nach der Käsesorte mit dem Rotkäppchenemblem, und anschließend war das Abspielen der Kassette mit dem entsprechenden Märchen obligatorisch. Welche Butter aufs Brot kommt, war ihr hingegen vollkommen gleichgültig. Weshalb also über dänische Butter nachdenken?
Es braucht etwas Geschick, Butter aus ihrer Verpackung zu befreien, um sie in die dafür vorgesehene Butterdose zu stürzen. Weil es sich dabei um einen sich häufig wiederholenden Vorgang handelt, ist es ratsam, eine Technik zu entwickeln, bei der man sich nicht ständig die Finger befettet. Man zieht dazu die Papierfaltung an der Unterseite auf, legt die freigelegte Seite des Butterquaders sorgfältig auf den Boden des Behältnisses und entfernt den Rest des Papiers ohne jede Butterberührung, gegebenenfalls durch leichten Fingerdruck auf die Butter durch das Papier hindurch. Millionen von Menschen tun es so auf mehr oder minder ähnliche Weise.
Andere Branchen, zum Beispiel Autohersteller, unterscheiden sich von Butterproduzenten in erster Linie dadurch, daß sie ihr Produkt aus marktstrategischen Überlegungen mit Airbags und dergleichen aufrüsten. Butter bleibt Butter, und von guter Butter sprechen fast nur noch alte Menschen. Beim Versuch, es den Autofritzen nachzutun, unterlief den Dänen nun ein folgenschwerer Fehler.
Was zuvor mit traumwandlerischer Sicherheit gelang, ja bisweilen in heitere Schwingung versetzte, weil die nicht zu Bewußtsein kommende Beiläufigkeit einen fortwährenden Triumph des Gelingens garantierte, das problemlose Umpacken der Butter in die Dose war fortan nicht mehr möglich. Lurpak, so heißt die dänische Buttermarke, veränderte nicht das Rezept, sondern die Verpackung. Auf der Papierfaltung an der Unterseite klebt jetzt ein Gütesiegel, das Zeichen der Lure, in dessen Namen die Butter seit Jahrhunderten exportiert wird. Die Lure ist ein aus dem ersten Jahrtausend stammendes, in Bronze gegossenes, bis zu drei Meter langes, hornähnliches, altes nordisches Blasinstrument, aber das spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.
Das Lurensiegel klebt zu fest auf der Faltung. Beim Versuch, es vorsichtig zu lösen, reißt das Faltungspapier leicht ein, und das großflächige Aufziehen der Verpackung mißlingt. Häufig kommt es vor, daß das angerissene Stück Papier aufgrund des Eigengewichts der Butter ganz abreißt und die Butter auf den Tisch oder Fußboden donnert. Ohne ein lästiges Anfetten der Finger ist Lurpak-Butter kaum noch zu öffnen. Das macht den Alltag, wo er auf so unangenehme Weise ins Bewußtsein springt, nicht leichter. Der Siegeszug oldenburgischer Butter scheint durch diese Bewußtseinserweiterung unaufhaltsam. Harry Nutt
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