: Wozu denn bloß zwei Löcher?
Foto: Bettina Rheims
Bettina Rheims fotografiert die nackte Kim Harlow, eine junge Frau, die vor der Operation ein Junge war, und dann schminkt sie sie, steckt sie in einen Anzug und fotografiert noch einmal die junge Frau, die sich in einen Jungen verkleidet hat. Ein Maskenspiel, heiteres Geschlechterraten. Rokoko. Aber neben den Fotos stehen die Texte. Sie zeigen einem schnell, daß dergleichen Verwandlungen ihren Preis haben: „Februar 1991. Kim war nun bereit, sich für mich in einen Mann zurückzuverwandeln. Mit Hilfe von Friseur, Visagist, Stylist erfindet sie Alexandre neu. In einem Nadelstreifenanzug verläßt sie das Badezimmer eines Hotels, die Haare nach hinten gezurrt; ein bewegender und schmerzhafter Augenblick. Tränen fließen. Sie hatte sich immer geweigert, mir Photographien aus früheren Zeiten zu zeigen“, schreibt die Photographin. Kim Harlow selbst beschreibt ihre Kindheit, versucht klarzumachen, was es bedeutet, im falschen Körper zu leben. Über den Eingriff selbst schreibt sie: „Selbst wenn ich manche Leute enttäuschen muß, werde ich nicht über die entsetzlichen Schmerzen berichten, die so ein Eingriff nach sich zieht. Ich habe davon nichts gespürt. Ob es sie überhaupt gibt? Oder sind sie womöglich nur die Folge einer tiefsitzenden Angst? Ich jedenfalls fühlte mich prächtig, nur daß ich vor Hunger fast umkam. Ich tröstete mich mehr schlecht als recht mit der tea-time. Am fünften Tag nahm mir der Arzt den Verband ab und zog die Kerze heraus, die verhindern sollte, daß die von ihm geschaffene Vagina zuwuchs. Mit seiner Arbeit sichtlich zufrieden, rief er aus: ,Oh, nice and deep!‘, dann machte er eine Menge Photos. Ich war ziemlich frustriert bei der Vorstellung, daß die erste Photoserie meiner weiblichen Reize unter diesen alles andere als glanzvollen Umständen entstand [...] Äußerst beunruhigt über das, was ich morgens in meinem Handspiegel gesehen hatte, fragte ich tags darauf den Arzt, warum ich denn zwei Löcher hätte. Er erklärte mir, eines sei für den Geschlechtsverkehr vorgesehen und das andere zum Wasserlassen. Ich fiel aus allen Wolken ... Ich hatte mir nämlich nicht die Mühe gemacht, mich vorab über die Beschaffenheit des weiblichen Geschlechts zu informieren.“
Vor dem Abschluß des Buches starb Kim Harlow an Aids. Arno Widmann/Foto aus: Kim Harlow, Bettina Rheims: „Kim“. Aus dem Französischen von Hartmut Zahn. Verlag Gina Kehayoff, 55 Seiten, 21 Schwarzweißfotos, 24,80 DM
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