: Wortgewalt!
„Sprechen statt Schlagen“ – das ist das Prinzip eines äußerst effektiven Anti-Gewalt-Trainings. Zwei von drei – meist unfreiwilligen – Teilnehmern lassen danach die Fäuste in der Tasche. In Osnabrück nehmen die Trainer junge Gewalttäter wie den 21-jährigen Janis in die verbale Zange. Ein Besuch vor Ort
von CHRISTIAN MEYER
Sie betatschen den jungen Mann, fassen ihn an, zwicken und fummeln. Sie drehen seinen Stuhl hin und her. Er bleibt cool. „Saufen, Kiffen, in fremde Wohnungen einbrechen, Leute verprügeln, ‘ne Knarre haben – ist das ein Vorbild?“, fragen die Plagegeister. „Nein“, sagt Janis (Name geändert). „Du willst doch Vorbild sein? Du willst dich doch um deinen Sohn kümmern?“ „Prügeln tu‘ ich mich nicht mehr“, sagt Janis. Ehrlich? Die Trainer rücken näher. „Du bist doch ruck, zuck hoch zu kriegen.“ Sie zupfen an Janis‘ schwarzem T-Shirt: „Ein bisschen berühren und schon ist es so weit.“ „Dann werd‘ ich natürlich sauer“, sagt Janis. „Was bist du für ein Vater, der kifft, der in fremde Wohnungen einbricht, der eine Knarre hat?“ – „Ganz einfach“, schreit ein Trainer, „ein Scheißvater!“
Janis‘ Vater ist Alkoholiker. Als Janis 13 Jahre alt war, hielt ihm sein Vater eine Pistole an die Schläfe. Janis kam für zwei Jahre ins Heim. Als der Vater wieder trocken war, holte er Janis dort wieder raus. „Er hat versagt, nicht ich“, sagt Janis, ein hagerer 21-Jähriger, heute über seinen Vater. In der Schule prügelte sich der Junge, machte „anderen Blödsinn“. Trotzdem schafft er 2002 den Hauptschulabschluss. Er bekam sogar eine Ausbildungsstelle als Hotelfachmann, zog von zu Hause aus. Irgendwann schmiss man ihn raus – wegen Diebstahls. „Zwei Wodka Red Bull und ein Wasser“, erinnert sich Janis. Danach schlug er sich irgendwie durch, war arbeitslos, ging jobben. Sein Sohn kam auf die Welt. 2004 fing er eine neue Ausbildung an, als Fachkraft für Lagerlogistik. Janis schien sein Leben im Griff zu haben.
Bevor Janis auf dem heißen Stuhl gelandet ist, hat er Rot gesehen. Auf seiner Seite im Doppelbett schlief ein anderer. Janis sprang auf die Matratze, trat dem anderen ins Gesicht. Sprühte ihm Tränengas in die Augen. Schlug auf ihn ein, mehrmals. Dann haute er ab. „Der hat zwei Tage nichts gesehen“, sagt Janis heute. So lange lag der andere im Krankenhaus. Das Jugendgericht Osnabrück verurteilte Janis wegen gefährlicher Körperverletzung. Ein halbes Jahr auf Bewährung – aber nur, wenn er cool bleibt. Er muss ein Anti-Gewalt-Training absolvieren, sonst geht er ins Gefängnis.
Diese Trainingsmethode, 1986 von dem Erziehungswissenschaftler Jens Weidner entwickelt, ist inzwischen bundesweit bekannt. Es soll vor allem junge Schläger von der Gewalt abbringen. 2001 kamen 958 Teilnehmer in 88 Trainings. Anti-Gewalt-Erzieher zwingen die jungen Erwachsenen, sich mit ihren Taten auseinander zu setzen. Konfrontative Pädagogik nennen das die Fachleute.
„Sprechen statt schlagen“, unter diesem Motto leiten Lars Geisler und Hans Ludger seit 2001 ein solches Training in Osnabrück. Gelernt haben sie bei Jens Weidner. Gerade mal zwei Prozent der Teilnehmer sind freiwillig bei ihnen. Die meisten kommen, weil sie müssen, weil es das Gericht so will. Wie bei Janis. Trotz dieser Auflage ist das Training erfolgreich. „Die schlagen nicht mehr mit dem Baseball-Schläger, sondern nur noch mit der Faust“, erklärt Geisler.
Der angehende Lagerist muss sich ändern. Das weiß er. Sonst verliert er alles: „Meine Ausbildung, mein Sorgerecht.“ Er bereut, was passiert ist. „Ich hab Scheiße gebaut. Ich hab mich auch schon entschuldigt.“ Per Handschlag, ein paar Tage nach seinem Wutausbruch. Bald zieht Janis um, aus einer der übelsten Straßen Osnabrücks – „Ich kenne da alle drei Dealer“ – in eine bessere Gegend. Aus der chaotischen Wohngemeinschaft in eine Drei-Zimmer-Wohnung mit der neuen Freundin. Die Zwischenprüfung in der Berufsschule hat er mit „Drei“ bestanden, obwohl er häufig geschwänzt hat.
Jetzt, drei Monate Training hat er schon geschafft, sitzt Janis mit seinen Trainern im Stuhlkreis und berichtet von der letzten Woche. „Ist geil, wenn alles funktioniert“, sagt er. „‘Ne geile Woche.“ Die Trainer sind überrascht. „Wir haben gar nichts, womit wir dich ärgern können“, sagt Hans Ludger. Doch da ist noch der „heiße Stuhl“. Der ist das wichtigste Element des Trainings. „Jede Tat hat einen Ursprung“, sagt Lars Geisler. Um die Ursachen der Gewalt herauszufinden, provozieren er und Ludger die Täter. Selbstsicher sitzt Janis auf dem roten Drehhocker in der Mitte. Neun Augenpaare fixieren ihn. Außer Geisler und Ludger sitzen zwei weitere Gewalttäter sowie fünf Co-Trainer im Kreis. Geisler erklärt Janis, dass er jederzeit abbrechen könne – dann aber noch mal auf den heißen Stuhl müsse. „Du hast uns die Erlaubnis gegeben, dass wir dich berühren dürfen, dass wir dich provozieren dürfen.“
Der Kreis schließt sich. „Wo lässt du deine Knarre, wenn du umziehst?“, fragt eine Co-Trainerin. „Ich werd sie wahrscheinlich meinem Vater zurückgeben“, antwortet Janis. „Deinem Vater? Ist das die Waffe, die er dir an den Kopf gehalten hat?“ Janis schweigt und schluckt.
„Wie war das früher?“
„Scheiße.“
„Haste geweint?“
„Ja.“
„Richtig?“
„Ja.“
„Haste gebrüllt?“
„Unzählige Male.“
„Hat es deinen Vater erweicht?“
„Nein“, sagt Janis.
„Warum kannst du deinem Vater vertrauen?“, fragt ihn Co-Trainer Christian. „Weil er alles getan hat, damit ich wieder aus‘m Heim rauskomme.“ „Aber vorher hat er auch alles getan, dass er dich reinbringt.“ „Ich bin seitdem nie wieder von ihm enttäuscht worden.“
„Sag das noch mal.“ Geisler formt eine Pistole mit Daumen und Zeigefinger, drückt sie Janis an die rechte Schläfe. Als sein Vater damals betrunken vor ihm stand, war die Waffe echt. „Sag ‘s noch mal: Mein Papa ist der Beste! Sag es noch mal: Meinem Papa vertrau ich. Sag ‘s doch mal. Ich hör gar nichts.“ Geisler drückt den Lauf der Pistole fester an Janis‘ Schläfe. „Ist das super, was dein Papa gemacht hat?“ Janis schluckt, schweigt.
Geisler hört nicht auf. „Das war super, als Papa besoffen ankam. Das war toll. Ich musste dann ins Heim. Papa ist der Beste.“ Der Provokateur sitzt hinter Janis. Der blickt ins Leere und seine Augen werden feucht. Er schluckt wieder, unterdrückt die Tränen. „Er hat mich seitdem nie wieder enttäuscht“, sagt Janis trotzig. Geisler nimmt die Fingerknarre von Janis‘ Schläfe, gestikuliert mit der flachen Hand. „Nee“, ruft er, „die Enttäuschung reicht fürs ganze Leben. Danke Papa, dass mein Leben so gut geklappt hat.“
Der heiße Stuhl ist der Höhepunkt nach 90 Stunden Anti-Gewalt-Training. Laut einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen ballen danach zwei von drei Teilnehmern ihre Fäuste nur noch in der Hosentasche. Bei den rückfälligen Tätern soll die Gewaltintensität deutlich zurückgehen. Sie schlagen weniger stark zu. Die Technische Universität Darmstadt hat untersucht: Ein Tag im Gefängnis kostet den Steuerzahler etwa 77 Euro. Wäre Janis ein halbes Jahr ins Gefängnis gegangen, hätten 14.000 Euro auf der Rechnung gestanden.
Das Osnabrücker Training wird seit dem vergangenen Jahr nicht mehr von der Stadt unterstützt. „Sparmaßnahmen“, sagt Hans Ludger trocken. Pro Teilnehmer des Anti-Gewalt-Trainings zahlt das Diakonische Werk Osnabrück maximal 3.000 Euro, die es über Spenden bestreitet und die 250 Euro, die jeder Teilnehmer zahlen muss.
Janis hat über eine Stunde auf dem heißen Stuhl gesessen, als Applaus aufbrandet. Ludger und Geisler sind mit ihm zufrieden. „Janis war ein bockiger Typ“, sagt Ludger. Aber er habe sich verändert in den letzten fünf Monaten. In zwei Wochen wird er seine Bescheinigung bekommen. Janis muss nicht in den Knast. Er kann seine Ausbildung weitermachen. Er behält das Sorgerecht für seinen Sohn. Er will ein besserer Vater werden.