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Archiv-Artikel

World gone wrong

DAS SCHLAGLOCH von RENÉE ZUCKER

Jeden Abend meldet sich Patrick Leclerc als ARD-Korrespondent aus Beirut, als sei er auf Betablockern Meine maronitische Freundin Najat ruft nicht an aus Beirut, auch Moshe aus Tel Aviv nicht mehr

Wohl denen, die noch wissen, was der Fall ist, denn die Welt soll ja sein, was der Fall ist. Die Welt sei durch Tatsachen bestimmt, und die Gesamtheit der Tatsachen bestimmt dann, was der Fall ist. Laut Wittgenstein zerfällt die Welt in Tatsachen. Momentan zerfällt sie in so viele Tatsachen, dass man gar nicht weiß, welche man zuerst aufheben soll. Wohl denen jedoch, die eine Meinung über die Welt und ihre Tatsachen haben.

In Deutschland sitzen sie vornehmlich in Redaktionsbüros. Dort scheint der Eingangsstutzen für Tatsachen und Wahrheiten hinzuführen. Dort sitzen dann emsige Sachbearbeiter, die sie wieder in die Welt hinaustrompeten. Gern auch jeden Tag eine andere. Wahrheiten über Hisbollahs, Islamisten und Israels, über Amerikas, Europas und UNOs – je mehr, desto besser, weil umso verwirrender. Und neue Tatsachen schaffend.

In Deutschland wurde wie immer etwas verspätet reagiert. Während BBC World schon tagelang stündliche Berichte aus Israel und Libanon sendete, wurden hier noch Ticker geordnet: wahrscheinlich, um darauf zu warten, welche Meinungsbildung von wem ausgegeben wird. Spätestens aber seit Deutschland jetzt angeblich auch beim Tatsachenmachen mitmachen darf, sind wir voll drauf. Dass sich außer den Deutschen für deutsches Mitmachen keiner interessiert, macht gar nichts. Umso mehr berichten dann eben die deutschen Medien über des deutschen Außenministers diplomatische Bemühungen. Dem Normalbürger bleiben sie so hohl wie undurchsichtig.

Die Wichtigkeit eines Landes scheint sich allerdings immer an der Frage der Militärpräsenz zu zeigen. Deshalb schicken wir sofort und unbedingt auch Soldaten dorthin. Wohin? Wozu? Egal. Israel fordert 20.000 ausländische Soldaten. Vier davon haben sie schon erledigt. Bei der Bergung der unbewaffneten toten Blauhelmsoldaten wurde nach Angaben eines UNO-Sprechers weiter auf das gut gekennzeichnete Gebäude geschossen. Kleine Dreisatzaufgabe: Wie viele Tage braucht man bei einem Schnitt von 4 für 20.000?

Dieser Krieg war, zumindest anfangs, mehr als andere die Stunde der Frauen. Wie geduldige Vorschullehrerinnen erklärten uns zu Beginn die israelische Außenministerin und eine Regierungssprecherin die Notwendigkeit ihrer Bombenwürfe – nicht ohne ihr Bedauern über die Unannehmlichkeiten für die Betroffenen auszudrücken, versteht sich. Der Blick in ihre gepflegten, offenen und lichten Gesichter verband sich schmerzhaft mit ihren Statements von Unnachgiebigkeit und Entschlossenheit.

Es wirkte wie ein Gespräch mit dem Friseur über ein kompliziertes Haargesteck, bei dem man feste Vorstellungen vom Resultat hat. Irgendwann ein Foto in der Zeitung von zwei kleinen Mädchen, die Raketen gen Südlibanon beschriften. Auch das sieht viel netter und aufgeklärter aus als eine uniforme Reihe von im Stakkato den Koran rezitierenden Madrassa-Schülern mit Kalaschnikows auf den Schultern. Jetzt sieht man mehr den israelischen Verteidigungsminister, der nicht nur aussieht wie von der Hamas, sondern auch so redet – nur mit umgekehrten Vorzeichen natürlich. Waffenbrüder im Geiste. Isaak und Ismael. Die schiitischen Hagars werden unterdessen burkaverhüllt zu Demonstrationen geschickt. Was ist das eigentlich für eine muslimische Sitte, diese Demonstrationen aufgescheuchter, kreischender Krähen?

Beim Treffen mit der libanesischen Regierung sah die US-Außenministerin eindeutig gut gelaunt aus. Zu den Bildern der lachenden Ministerin im Kreise ihrer amerikanischen und libanesischen Kollegen sagen unsere Fernsehsachbearbeiter, sie sei sehr besorgt über die humanitäre Katastrophe im Südlibanon. Eine Waffenruhe möchte sie deswegen aber nicht. Vielleicht war das aber auch ein Übersetzungsfehler. In diesen Tagen werden sogar manche englischen Zitate falsch wiedergegeben. Wie mag es dann erst bei den arabischen oder iranischen hergehen? Was bedeutet so ein Satz wie der, den Chamenei gesagt haben soll, Israel sei ein „infektiöser Fötus für alle Muslime der Welt“?

Kreuz und quer kreisen Sätze, Namen von Menschen und Orten um den Erdball. Und mindestens zweimal täglich werden Wahrheiten und Tatsachen gegen frische ausgetauscht, vielleicht damit wir uns nicht langweilen oder uns eigene Tatsachen und Meinungen machen. Manche entziehen sich allerdings auch der allgemeinen Aufregung: so wie der ARD-Korrespondent Patrick Leclerc, der seine Reportagen aus Beirut teilnahmslos wie auf Betablockern herunterleiert, während übereifrigen Nachrichtensprechern keine Meldung zu lächerlich ist, um sie nicht mit dem betont unbewegten Pokerface des Eingeweihten weiterzugeben. Nur Luc Walpot scheint bald der Kragen zu platzen, nicht nur angesichts dessen, was er vor der Kamera zu erzählen hat, sondern der Unkenntnis seitens der ihn befragenden Nachrichtensprecher.

Meine maronitische Freundin Najat meldet sich inzwischen nicht mehr. In ihrer letzten Mail schreibt sie, dass ihr Büro in Beirut geschlossen ist und sie im christlichen Viertel sitzt und Angst hat. Das war vor 9 Tagen. Von meinem Freund Moshe aus Tel Aviv hör ich schon lange nichts mehr, weil wir uns immer nur dasselbe erzählen konnten. Der schiitische Mansoor hat mir die Freundschaft gekündigt, weil er den Konflikt zwischen familiärer Loyalität und den endlosen Diskussionen mit mir nicht mehr aushält. Nur Leyla und ich streiten nicht mehr, weil jetzt nicht die Zeit zum Streiten ist.

Keine von uns hat Antworten, sondern nur einen Haufen Fragen. Und die Feuilleton-Rundschau im Internet, Perlentaucher.de, sieht ihre Aufgabe nicht mehr darin, ihren Lesern zu erzählen, was im Feuilleton los ist, sondern kommentiert immer schärfer, welche Zeitung die perlentaucherrichtige Meinung vertritt. Und dafür wird dann offenbar auch schon mal die ein oder andere brauchbare Lüge oder journalistische Unsauberkeit in Kauf genommen.

Auch hier gehört der Kampf der Kulturen schließlich immer wieder neu ausgetragen. Dabei muss man gar kein Pazifist sein, um Krieg Scheiße zu finden. Krieg ist nämlich Scheiße.

Da, wo gerade kein Krieg ist – vor allem also in den westlichen Industrienationen –, muss man es sich wohl so ähnlich wie in einem Büro vorstellen. Jeder hat so seine speziellen Wünsche und Ziele, was das eigene Fortkommen und den Gehaltsscheck angeht. Für das Erreichen dieser Ziele tu ich mich schon mal zweckdienlich mit diesem oder jenem Kollegen zusammen, um einen dritten zu mobben. Einer von den anderen Kollegen hat allerdings auch seine Vorstellungen von der Zukunft und möchte keinesfalls, dass ich ihm dabei in die Quere komme. So wird er mich beim Mobben gegen Sowieso zwar unterstützen, aber gleichzeitig mit einem vierten Kollegen eine Falle für mich aufbauen. Der vierte gründet eine eigene kleine Gruppe.

Am Ende blickt kaum noch einer übers Unkraut im eigenen Vorgarten hinaus, und an irgendeinem Flurende sitzt immer so ein Stromberg-Arschloch, dem wir, wenn’s schief geht, alles in die Schuhe schieben können. Er wird dann gegen ein Nächstes ausgetauscht. So wie die Tatsachen, die den Fall bestimmen, der die Welt ist.

Fotohinweis: Renée Zucker lebt in Berlin und ist freie Publizistin.