Wolfgang Neuss wäre 90 geworden: „… ab 5 Uhr 45 wird zurückgelächelt“
Unruhestifter, Aussteiger, Meister-Kabarettist und Pointen aus dem Maschinengewehr: Erinnerungen an den großartigen Wolfgang Neuss.
Im Himmel war die Hölle los, als Dieter Hildebrandt am 20. November dort einzog. Während es hienieden Nachrufe auf den „Großmeister des Kabaretts“ hagelte, brüllte es dort oben laut und ungehalten: „Na endlich, wird aber auch Zeit!“ Dieter erkannte die Stimme sofort und fühlte sich gleich wieder zu Hause, denn das war unverkennbar sein Freund, Kollege und Übermeister des Kabaretts, den er fast 25 Jahre überlebt hatte: Wolfgang Neuss.
Jedes Mal, wenn in den 80er Jahren ein „Scheibenwischer“ produziert und ausgestrahlt war, pilgerten die Beteiligten in die Neuss’sche Räucherhöhle in der Lohmeyerstraße, um sich die Kritik ihres Übermeisters anzuhören. Da hockten dann die Hildebrandts, Polts, Schneyders, Beltzs auf dem Boden, denn Möbel gab es keine, und das „Ungeheuer von Loch Neuss“ (Hildebrandt) entzündete im Schneidersitz einen seiner gewaltigen Joints und feuerte maschinengewehrartig seine Kritikpointen ab.
Diese Sitzungen waren nicht selten witziger als die Sendung selbst und jedes Mal hieß es danach: „Wolfgang, du musst in die nächste Sendung kommen!“ – und er antwortete konsequent: „Auf keinen Fall, es sei denn ihr dreht hier!“
Seit 1974 hatte er sich von der Bühne zurückgezogen, um seine Tabletten- und Alkoholsucht mit Hanf zu kurieren („Ich rauche den Strick, an dem ich hängen würde!“), und versuchte, auch seine Kollegen mit den Vorzügen dieser Medizin vertraut zu machen. Doch Dieter Hildebrandt zückte nach diesen Sitzungen stets einen Hunderter und sagte: „Wolfgang, rauch für uns mit.“
Fortschritt aus Angst
Als Soldat im Lazarett hatte Neuss gemerkt, dass er Witze besser erzählen konnte als andere. Zurück an der Ostfront schießt er sich 1943 den Zeigefinger der linken Hand ab, um wieder dorthin zu kommen: „Die Angst trieb mich zum Fortschritt. Selbstverstümmelung war und ist eine gute Friedensbewegung!“ Mit bunten Abenden meldet sich Humorsoldat Neuss auch 1945 im Internierungslager zur Stelle und tingelt danach mit einem Geiger und einem Leiterwagen über Land. Es folgen erste Auftritte auf Profibühnen zusammen mit seinem Partner Wolfgang Müller.
Im Jahr 1951 tritt Neuss mit der Pauke vor 20.000 Berlinern in der Waldbühne auf und erobert die Herzen der Frontstadt im Sturm. Er spielt Theater unter Erwin Piscator, kleine und große Rollen in über 50 Spielfilmen, führt Regie beim Berliner Kabarett „Die Stachelschweine“ und wird im Räuberduo mit Wolfgang Müller in „Das Wirtshaus im Spessart“ (1957) zum Liebling der Nation.
Bald eröffnet kein Schuhgeschäft mehr ohne die kesse Schnauze von Neuss, der von der Strumpf-Firma Nur Die für mehrere Werbespots beauftragt wurde. Nach Vorführung des ersten Spots aber schon, den Neuss nicht willens ist abzuändern, klagt der Strumpfhersteller wegen Vertragsbruchs. Darin tritt Neuss nämlich einen Fernseher ein und bekundet: „Das machen nur die Strümpfe, NUR DIE, anders ist das Ding nicht kaputtzukriegen.“
Die Kulturkritik am Fernsehen hinderte ihn freilich nicht, seinen ersten eigenen Film – „Wir Kellerkinder“ (1960) – von der ARD mitfinanzieren zu lassen; die heute selbstverständliche Praxis führte zum Eklat: Die genialste deutsche Komödie über den Faschismus musste bei den Berliner Filmfestspielen außer Konkurrenz laufen. Um seinem nächsten Film Zuschauer zu verschaffen, legte er sich nicht nur mit dem Fernsehen an, sondern wurde gleich zum „Verräter der Nation“ – in einer Anzeige für „Genosse Münchhausen“ (1962) verriet er den Mörder der Durbridge-Serie „Das Halstuch“, des ersten „Blockbusters“ der jungen TV-Nation.
Morddrohungen waren die Folge, den Spaß wollte sich das Wirtschaftswunderland von seinem Spaßmacher dann doch nicht verderben lassen. Mit seinen Einmannshows im Domizil am Lützowplatz („Das jüngste Gerücht“, „Neuss Testament“ und „Asyl im Domizil“) Mitte der 60er Jahre mutiert die bis dahin familienkompatible Berliner Kodderschnauze zum scharfzüngigsten Lautsprecher der APO, die komische Knallcharge zur politischen Instanz, der Filmstar und Playboy zum Anmacher und Unruhestifter. Und zum Aussteiger, als Neuss die Bühne mit der Meditationsmatte tauschte und von Tabletten auf LSD umstieg.
Dem Kampf entgegen
„Geistige Aufrüstung“ nannte Neuss das und setzte diese der Radikalisierung der 68er Kulturrevolution, dem Abdriften in den bewaffneten Kampf entgegen – das Morden und Brandschatzen hatte er hinter sich. „Das letzte Mal war’n die späteren RAF-Leute bei mir nach der Baader-Befreiung und sagten: ’Wolfgang, du musst uns helfen, wir brauchen dein Auto.‘ Ich hab gebrüllt: ’Seid ihr wahnsinnig‘, und nicht mitgemacht – leider, wie man heute sagen muss. Denn wäre ich Wahnsinniger damals eingestiegen, hätte das ganze Abenteuer keine drei Tage gedauert.“
Ein Foto von Ulrike Meinhof und ihren Zwillingen hing dennoch bis zum Schluss in seinem zu einer einzigen Pinwand ausgewachsenen Zimmer. Für Neuss kam als Konsequenz der Radikalität der 60er Jahre nur das Abenteuer der Selbstfindung infrage. Und als er wieder auftauchte aus der inneren Versenkung, brach er sein Schweigen mit Worten, die den alten Kollegen ziemlich irre vorkamen – uns aber, die wir gerade die taz gegründet hatten, wie gerufen.
Im Jahr 1981 richteten wir ihm eine Kolumne ein und fortan sprach er mir wöchentlich seine aberwitzigen „buddhadaistischen“ Monologe auf Band, in denen Lokalklatsch und Globalstrategie, Privatclinch und Weltkrieg, Kleinkunst und Großkultur, Tagesaktualität und Ewigkeit auf holografische Art kollidierten. Er war immer noch der blitzschnelle Assoziationsartist und Kalauerkönig („Die Nordsee ist umgekippt – hat mal jemand nen Lappen?“), aber er schöpfte nicht mehr aus dem „Anti“, dem permanenten Protest, sondern übte sich in der Zen-Politik der Umarmung, im „An die Wand lieben“: „… ab 5 Uhr 45 wird zurückgelächelt.“
Neuss’ „geniale Zeilen“ zum Faschismus hat Klaus Theweleit, Chefanalytiker deutscher Männerfantasien, später zitiert – neben Benn, Jünger, Pound, Hamsun, Elvis, im „Buch der Könige“. Da gehört er hin, der Neuss, als Schlachtergeselle zu den Dichterkönigen, als deutscher Trommler neben den Rock-’n’-Roll-King: „Das, was wir Faschismus nennen, ist in Wirklichkeit nur eine ganz bestimmte Form der Ekstase.“ Paradebeispiel für einen, der nicht Faschist geworden ist – und nie vergaß, dass er einer hätte sein können.
Immer von unten
„Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen“, entbot er Richard von Weizsäcker bei seinem legendären Talkshowauftritt 1983 zum Gruße – der Spruch war ihm am Nachmittag auf einer Glückwunschkarte zum 60. Geburtstag zugeflogen, von einem Fan aus dem Knast. Ihn gleich am Abend vor einem Millionenpublikum als Appell an „Häuptling Silberlocke“ zu bringen, war nicht nur typisch für die Neuss’sche Methode, es brachte auch das Phänomen dieser deutschen Biografie auf den Punkt. Nicht den typischen Oberleutnant, mit Oberwasser unter aller Regimen, sondern einen deutschen Schweijk und Torpedokäfer: „Ich hab nie aufgehört, von unten anzufangen.“
Das musste er auch, denn nachdem er sich in der Talkshow für die Drogenlegalisierung ausgesprochen hatte, erfolgten eine Hausdurchsuchung und Verurteilung. Dass der Krebs („Das ist kein Raubtier, sondern ein Haustier!“) ihn 1989 dahinraffte, war eindeutig zu früh – sechs Monate später fiel die Mauer und die Wiedervereinigung hätte ihm als gesamtdeutschen Komiker garantiert einen weiteren Frühling beschert.
Immerhin blieb es ihm erspart, der trostlosen Comedy-Inflation unserer Tage ausgesetzt zu sein, für deren Akteure mehr denn je des Meisters Maxime gelten sollte: „Heut mach ich mir kein Abendbrot, heut mach ich mir Gedanken.“
Die kursiv gesetzten Passagen stammen aus dem 1985 im Heyne-Verlag erschienenen Buch „Der gesunde Menschenverstand ist reines Gift. Paukenschläge von Wolfgang Neuss“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei