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taz FUTURZWEI

Wolf Lotter über Robert Habeck Grüner Industrialismus

Die aktuelle Grüne Wirtschaftspolitik ignoriert die wirkliche Zeitenwende von der Industrie- zur Wissengesellschaft.

Hat Habeck keinen „grünen Plan“ für eine ökonomische Transformation? Foto: Foto: Robert Wiedemann/Unsplash

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Wissensarbeit ist, wenn man etwas weiß.

Etwas wissen ist, wenn man ein Problem lösen kann, egal ob groß oder klein. Dann wird aus Wissen Können, und das ist die eigentliche Wissensarbeit.

Aber wer kann das?

Albert Einstein vielleicht, Deutschlands berühmtester Wissensarbeiter des 20. Jahrhunderts, dem das folgende Zitat zugeschrieben wird: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun, dabei aber andere Ergebnisse zu erwarten.“

Aber erstens, Einstein ist leider tot, und zweitens, das Zitat hat er sich vielleicht gedacht, aber nie so gesagt. Außerdem ist das Ganze ziemlich unrealistisch, wenn wir über Deutschland reden. Hier hat niemand die Absicht, den Wahnsinn hinter sich zu lassen, das immer Gleiche zu tun, sich dabei aber andere Ergebnisse zu erwarten.

Dieses Land ist geradezu auf diesen Routinen, dem immer Gleichen, gebaut, und es scheint aus den Fugen zu geraten, wenn jemand daran was ändern will. Deshalb werden die, denen man die Veränderung zutraut, sehr bald – und wenn ihnen ihr Amt lieb ist – zu denen, vor denen sie uns immer gewarnt haben. Und so ist es heute die grüne Wirtschaftspolitik, die sich dort einreiht, wo die anderen Parteien immer waren: die industrielle Struktur Deutschlands nicht antasten. Erstens würde solche Transformation nämlich Wähler vergraulen, man wäre schnell die Macht los und damit die Aussicht, was verändern zu können.

Hier erkennt man dann den Wahnsinn klar. Wer sich einredet, etwas verändern zu können, weil er aus politischem Opportunismus nichts verändern will, der wird dem Zitat komplett gerecht. Und so ist Deutschland und sind auch die Grünen jetzt führend in der verbalen Transformation, damit die praktische erst gar nicht erst über das Land kommt. Nun ist es so, dass die ganzen wichtigen und richtigen Sachen mit der ökologischen Transformation und dem Kampf gegen die Erderhitzung nur dann klappen, wenn man vorher erst mal seine Hausaufgaben in der ökonomischen, technologischen, sozialen und kulturellen Transformation gemacht hat. Das aber unterbleibt. Die Öko-Transformation hängt in der Luft. Denn an die Fundamente, um die es wirklich geht, wenn man sein Haus neu bauen will, trauen sie sich nicht ran. Habt ihr die Umfragen gesehen? Bald sind Wahlen!

Was am Ende dabei rauskommt, heißt „Industriepolitik in der Zeitenwende“, ausgeführt vom Stab des Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck, und ist unter allen Gesichtspunkten professionell verstandener Transformation ein falsches Zitat. Es soll „die Industrie in ihrer ganzen Vielfalt erhalten“ helfen. Am Ende des 60-Seiten-Epos (in dem exakt 50-mal das Wort Zeitenwende vorkommt) steht: „Für ein starkes Industrieland Deutschland.“

Das ist, wie wir gleich sehen werden, so falsch, dass noch nicht mal das Gegenteil richtig ist – und es ist gleichsam eine Kapitulation von einer Wirtschaftspolitik mit Perspektive und der Chance auf eine gelungene Transformation.

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Selten wurde so klar, dass es keinen „grünen Plan“ für eine ökonomische Transformation gibt. Die Grünen hängen nach wie vor in ihrer alten Endlosschleife fest. Entweder ist Industrie der Popanz, den man ablehnt, oder aber, im Amt erhalten will. Jedenfalls fixieren sich die Grünen auf den Industrialismus im Guten wie im Bösen, und Robert Habeck macht sich gerade zu seinem prominentesten Anwalt.

Nie standen die Chancen für eine dritte, bessere, transformative Lösung besser als heute. Europa braucht angesichts des zunehmenden globalen Drucks und der offensichtlich zunehmenden Feindseligkeit Chinas und Unberechenbarkeit anderer Produktionspartner im Globalen einen Neuanfang in der Produktion. Der aber sollte so sein, dass er in jeder Hinsicht besser ist als das, was war und ist. Die neue Industrie ist keine „Industrie 4.0“, die mit dem gleichen gesellschaftlichen und organisatorischen Konzept weitermacht – nur mehr Roboter und so –, sondern eine Produktionswirtschaft, die auf Wissen baut, die es in Europa ja gibt. Es kommt nur von der Grundlagenforschung nie auf die Piste der Märkte. Deshalb fehlen uns die Produkte und Dienstleistungen. Deshalb müssen wir das, was andere aus dem machen, was hier gedacht wird in Labors, Unis, in Unternehmen und Start-ups erst an andere verhökern, damit wir es, als brauchbares Ganzes, wieder kaufen können. Wer also die Industrie in ihrer ganzen Vielfalt erhalten will, hat nicht verstanden, wo der Hammer hängt.

„Die Bundesrepublik Deutschland ist gemessen an allen wichtigen Parametern heute kein klassisches Industrieland mehr“, hat der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe schon 2009 festgestellt. Wenn in den Nachrichten von der „Industrienation“ die Rede ist, stimmt das, faktisch und nach Leistung, eben nicht, schon lange nicht mehr, denn weder würden im industriellen Sektor die meisten Werte geschaffen noch findet hier ein größerer Teil der Bevölkerung seine Beschäftigung. Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung und Arbeit liegt in Deutschland bei 20 Prozent der Gesamtleistung, das ist doppelt so viel wie in den USA und Frankreich. Im Jahr 1960, als das Wirtschaftswunder des Wiederaufbaus nach dem verlorenen Weltkrieg auf Hochtouren lief, waren 50 Prozent der deutschen Arbeitnehmer in der Industrie tätig.

Im Jahr 2022 arbeiten im sogenannten „verarbeitenden Gewerbe“ (Automobil, Glas-, Metall-, Holz-, Papier-, Textilherstellung, Maschinenbau, Chemie, Nahrungsmittelindustrie) 7,4 Millionen Menschen.

Im Dienstleistungsbereich arbeiten 34,401 Millionen Menschen. Diese Zahlen sind aber noch nicht mal die halbe Wahrheit, denn hier wird entlang jener „Sektorengrenzen“ gerechnet, deren Grundlagen sich im 19. Jahrhundert finden. Wissensarbeit hingegen lässt sich nicht mehr eindeutig so verorten wie im Fabrikzeitalter. Definiert man Wissensarbeit zeitgemäß als wissensintensive Dienstleistungen, dann sind im Jahr 2022 in Deutschland 42,7 Prozent aller Beschäftigten darin wiederzufinden.

Industriegesellschaft? Ach was. Eine immer kleiner werdende Minderheit mit einer extrem guten politischen Lobby, fest verankert in den alten Volksparteien und natürlich mit den Privilegien alter Verbände ausgestattet, dirigiert dem Rest das Leben. Neben vielen anderen Gründen ist deshalb Habecks Kotau vor diesem Ancien Regime unverständlich und kontraproduktiv, was die Transformation angeht.

Die Industrie, zumal die auch im Habeck-Plan so geschätzte Grundstoffindustrie, ist teuer, direkt und indirekt, durch Ressourcenverbrauch und Umweltschäden, aber genauso durch ihren völlig überzogenen Einfluss auf Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir arbeiten, leben, urlauben im industriellen Takt, alles ist der alten Produktionswirtschaft untertan.

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Die Industrie, die hier gemeint ist, hat auch nichts mit jener der Wissensökonomie zugehörigen Hochtechnologie-Produktion zu tun, die innovationsintensiv ist und problemlösungsorientiert, so, wie die Industrie in Deutschland vor vielen Jahrzehnten mal war, als sie – Siemens, Bayer, Daimler, Bosch – ihren Weltruf erlangte. Diesen und anderen erfolgreichen Hochtechnologie-Produzenten muss man ohnehin nicht erklären, was Wissensgesellschaft ist – das wissen sie längst. Für sie sind Angebote wie Industriestrompreis ein nettes Gimmick, das man mitnimmt. Die erfolgreichen Wissensproduzenten verstehen sich auch nicht als „Industriemacher“, lange schon nicht mehr. Die höchste Innovationskraft haben die KMUs, Kleinunternehmen und Mittelstand, aber die sind unübersichtlich und spielen in der Strategie kaum eine Rolle. Für sie sind im 50-Milliarden-Euro-Paket unter der vage und unverbindlich gehaltenen Rubrik Digitalisierung gerade mal 150 Millionen Euro reserviert. Die Botschaft dahinter ist: Die, die die eigentliche Transformation leisten, interessieren uns nicht. Das ist uns zu unübersichtlich. Lieber ein paar schöne Fotos auf schönen Spitzentreffen mit Industrievorständen. Der Umgang mit Komplexität, der deutsche Politiker immer schon überfordert hat, zeigt sich darin überdeutlich, denn gefördert werden müsste, wenn überhaupt, die Wissensökonomie, also die Branche, die etwas weiß, etwas kann und dass dann auch anbietet – als Computer, E-Mobil, Akku, Kraftwerk und vor allen Dingen als Service. Über den kann man in Deutschland nicht reden, weil er so schwer fotografierbar ist. Schon länger.

Das hängt nicht in der Luft.

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taz FUTURZWEI N°28: Weiterdenken

Wer ist „Der kleine Mann“, wer sind „Die da oben“, wie geht „Weltretten“, wie ist man „auf Augenhöhe“ mit der „hart arbeitenden Bevölkerung“? Sind das Bullshit-Worte mit denen ein produktives Gespräch verhindert wird?

Über Sprache und Worte, die das Weiterdenken behindert.

U.a. mit Samira El Ouassil, Heike-Melba Fendel, Arno Frank, Dana Giesecke, Claudia Kemfert, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Bernhard Pörksen, Bernhard Pötter, Florian Schroeder, Paulina Unfried, Harald Welzer und Juli Zeh.

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Das Industrielle ist in Deutschland von jeher politisch gewesen, im Sinne einer diese Gesellschaft konstituierenden Kraft. Das hat mit Leistungskraft nichts zu tun.

Als die wirkliche Zeitenwende von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, von der deutschen Politik und Leitkultur und Öffentlichkeit weitgehend ignoriert, stattfand, also Ende der 1960er-Jahre und in den 1970er-Jahren, beschrieb der kluge Staatsrechtler Ernst Forsthoff diese Seltsamkeit deutscher Kultur und Politik, sich in der Industrie und sonst in nichts wiederzufinden, sehr deutlich. Im Jahr 1971 erschien Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. Darin schreibt er: »Der harte Kern des heutigen sozialen Ganzen ist nicht mehr der Staat, sondern die Industriegesellschaft«, und in der, so Forsthoff weiter, gehe es um „die Stichworte Vollbeschäftigung und Steigerung des Sozialprodukts.“ Vor diesem Hintergrund würden alle „Klassengegensätze gegenstandslos“, so Forsthoff. Die Realverfassung ist der Industrialismus, ein Fetisch, der selbst dann noch gepflogen wird, wenn große Teile der Industrie schon in der Wissensgesellschaft angekommen sind. Die reale Transformation spielt keine Rolle. Die Welt von gestern muss erhalten bleiben. Nicht nur die Wirtschaftspolitik der politischen Mitbewerber, sondern eben auch der Grünen folgt dem Dogma, das Forsthoff vor mehr als 50 Jahren präzise erfasst hat: „Der Verbund von Staat und Industriegesellschaft ist unlöslich, an ihm hängt das Funktionieren des sozialen Ganzen.“

Es ist eine Welt der Wahrnehmungsstörungen. Kritisiert man den im Vergleich mit anderen entwickelten westlichen Staaten hohen Industrieanteil, dann heißt es sofort: Ja, das zeigt doch nur, wie wichtig die Industrie für Deutschland ist! Es ist also kein Zeichen der Rückständigkeit, immer nur aufs Fließband, ins Kohlerevier und in die Fabrik zu starren, sondern eine Tugend. Das war eingangs mit der Feststellung gemeint, dass es Dinge gibt, die so falsch sind, dass noch nicht mal ihr Gegenteil richtig ist. Rückständigkeit und Transformationsunfähigkeit werden so zur Argumentationshilfe.

Kaum ein deutscher Wirtschaftsberater und Autor zum Thema ökonomische Transformation ist so reputiert wie Hermann Simon, der im Vlog mit dem Ökonomen und Journalisten Gunnar Sohn das Industriestrategiepapier aus dem Habeck-Ministerium kurz nach dessen Veröffentlichung profund zerlegte. Hermann Simon ist kein Schornstein-Freak. Er ist einer der Vorreiter einer klugen, auch ökologisch weitaus verträglicheren Wissensökonomie, die klar sagt, dass „De-Industrialisierung nicht das Problem, sondern die Lösung ist“.

So etwa sei die deutsche Textilindustrie, die einst mehr als eine Million Menschen beschäftigte, fast vollständig verschwunden. „Das hat uns nicht geschadet, im Gegenteil“, sagt Simon, „und auch das Verschwinden des Bergbaus hat der Wirtschaft Vorteile gebracht.“ Was Gewerkschaftern und Fabriksdogmatikern die Zornesröte ins Gesicht treibt, ist in Wahrheit ein Fortschritt. Ein seit Jahrzehnten überholtes Bild vom braven Proletarier, der in der düsteren Fabrik sich und seiner Familie das Brot verdient, mag in sozialromantischen Kreisen verbreitet sein. Die Wahrheit sieht längst anders aus. In den Autofabriken und Kohlerevieren arbeiten weitaus weniger Menschen als früher, und die, die neben Maschinen, Algorithmen und Methoden dort noch werktätig sind, sind hoch gefragte Spezialisten, die Leute also, die am Arbeitsmarkt extrem nachgefragt sind – Fachkräftemangel ist keine Wahrnehmungsstörung. Er, so Simon, kenne eine ganze Menge Unternehmer, die „sehnlichst darauf warten, dass die Braunkohle dicht macht, damit die die Fachkräfte von denen kriegen“. Das ein Gros der grünen Industriestrategie in Subventionen für hohe Energiepreise liegt – Kompensationszahlungen also für die Energiewende –, ist besonders daneben. Hermann Simon verweist darauf, dass allein die BASF mehr Gas verbraucht als die ganze Schweiz – „und da muss man halt auch fragen: Ist Deutschland dafür der optimale Standort?“

Die Schwäche der Industriestrategie liege vor allen Dingen darin, nicht zu akzeptieren, dass Deutschland nicht alles könne, was es wolle. Die Transformation scheitert an praktischen Dingen. Die Grundlagenforschung in Deutschland ist international anerkannt hervorragend. Aber sie kommt nicht in der Praxis an. Es gelingt, anders als in Kalifornien, wo Politik und Markt verständig miteinander reden, nicht, den Fortschritt und das Wissen auch verkaufbar zu machen. Das alles hat zu tun mit Ideologie, Traditionen, mit jener staatstragenden Kultur, für die das Land steht und seine Fabriksgesellschaft.

Die internationalen Krisen und Abhängigkeiten – von Putins Gas und Chinas Fließbändern – brauchen eine starke Antwort in Europa, aber die besteht eben nicht darin, alte Industrien so weiterzudenken und am Leben zu erhalten, wie das schon in den vergangenen 50, 60 Jahren nicht funktioniert hat. Es braucht Allianzen mit denen, die im gleichen Lager sind, dem Westen, den USA vor allen Dingen, um sich gegen die aufzustellen, die nicht nur Konkurrenten am Weltmarkt sind, sondern auch die Feinde der Demokratie. Es braucht volle Kanne Wissensarbeit, Innovationsfähigkeit, und zwar ohne falschen Aktionismus, ohne falsche Geschäftigkeit, sondern orientiert an dem, was Menschen wirklich brauchen. Das ist nicht Industrie 4.0, sondern Wissensgesellschaft 1.0, eine Welt, in der kritisches Fragen und Neugierde Probleme lösen, statt sie immer verzweifelter zu verwalten.

Dazu braucht es auch eine eigene Produktion, aber eine neue, die auf Wissen und Innovation baut, nicht auf Bestand und Retrospektiven. Eine Strategie ist, wenn wir aufhören, das Immergleiche zu tun und uns zu erhoffen, dass dabei andere Ergebnisse als bisher erbracht werden.

Oder, um es kurz zu sagen, das Ende des Wahnsinns.

WOLF LOTTER ist Essayist, Buchautor und Gründungsmitglied von brand eins. Sein neuer Essay „Die Gestörten“ ist bei brand eins books erschienen (128 Seiten, 20 Euro), im März 2024 folgte „Echt. Über den Wert der Einzigartigkeit in einer Welt der Kopien“ bei Econ/Ullstein Berlin.