Wohnen an der Schmerzgrenze

Edzard Reuter hat ihre Wohnungen in Lärmhöllen mit Blick auf die größte Baustelle der Republik verwandelt – dennoch wollen die letzten Mieter auf dem Potsdamer Platz nicht weichen  ■ Aus Berlin Torsten Preuß

Stellen Sie sich vor, Sie sind stolzer Mieter einer Dachgeschoßwohnung im Herzen Berlins. 100 Quadratmeter, allerbeste Lage. Wenn Sie abends vor dem eingebauten Kamin sitzen, können Sie durch die schrägen Fenster sehen, wie der Fernsehturm und die Siegessäule am Nachthimmel mit den Sternen konkurrieren. Alles, was das Leben in der Hauptstadt ausmacht, ist in Ihrer Nähe. Sie wohnen mittendrin, mitten in Deutschland. Angeschlossen an Ihr schönes Zuhause ist eine 50 Quadratmeter große Werkstatt, ein Hobbyraum für trübe Tage. Ein Traum – und unbezahlbar.

Nicht für Werner Köbberling. Er lebt auf diesen 150 Quadratmetern. „Hier fühle ich mich wohl“, sagt er. Kein Wunder. Das Traumgeschoß hat einen Preis, der jedem Großstadtmieter das Wasser in die Augen treibt: 462 Mark, warm, wohlgemerkt. Die Wahnsinnsmiete stammt noch aus einer Zeit, in der die Berliner Mauer die Gegend hier zum Randgebiet machte. Heute ist sie das Zentrum schlechthin: der Potsdamer Platz. Seit 15 Jahren wohnt Werner Köbberling unterm Dach des „Weinhauses Huth“, des letzten übriggebliebenen Gebäudes auf dem einstmals „verkehrsreichsten Platz Europas“. An Ausziehen hat er nie gedacht. Bis ein Mann in Stuttgart eine Idee hatte.

Getrieben von nostalgischen Vatergefühlen und der Aussicht auf ein gutes Geschäft, entschied Edzard Reuter nach dem Mauerfall, ein Stück des Potsdamer Platzes zu kaufen, um die Konzernzentrale der Daimler-Benz AG von Stuttgart nach Berlin zu verlegen; just dahin, wo bisher Werner Köbberling und 28 weitere Mietparteien im „Weinhaus Huth“ ein alles in allem ruhiges Leben geführt hatten.

Damit war es dann vorbei, und seit im Sommer 94 der erste Spatenstich die teure Erde traf, ist auf dem Platz der Teufel los: Mehrmals am Tag erzittert das Wohnhaus, riesige Bohrer schrauben sich rings um das Gebäude in den Boden, schwere Lkws scheppern über den mittlerweile eingezäunten Platz; und immer wenn Werner Köbberling entnervt aus dem Fenster schaut, bleibt ihm nur, fassungslos festzustellen: „Ich wohne auf der größten Baustelle Europas.“

Das Haus ist nur noch durch eine extra angelegte Zufahrt, quer über den Bauplatz, zu erreichen, der Weg zur U-Bahn dauert jetzt dreißig statt zwei Minuten. Kinderladen und Supermarkt, früher um die Ecke, sind faktisch Ausflugsziele geworden, jedes Einschlafen setzt dichtgeschlossene Fenster voraus.

Das Leben auf dem Bau – für die Mieter eine „Zumutung“. Sie fühlen sich vom Bauherrn, der Daimler-Benz AG, „verarscht“ und werfen dem Milliardenkonzern „Arroganz und Ignoranz gegenüber unseren Interessen und Problemen“ vor. Andererseits kann sich niemand von ihnen ernsthaft vorstellen, daß 15 Mieter das Milliardenprojekt Potsdamer Platz aufhalten könnten.

Als das „Weinhaus Huth“ im Rahmen des Grundstücksdeals quasi nebenbei in die Hände der DaimlerBenz AG fiel, galt es noch als „Pfahl im Fleische des Potsdamer Platzes“. Es steht unter Denkmalschutz, darf also weder verändert noch abgerissen werden. Erst als die neuen Platzherren ihren Besitz vor Ort bestaunten, aufs Dach stiegen und sich umschauten, erkannten sie in dem Gebäude ein Juwel. Das Brandenburger Tor, der Reichstag, die Siegessäule und der Fernsehturm, alles vor der Nase und Mercedes mittendrin.

Wolfram Schulze, der seit sieben Jahren hier wohnt (68 Quadratmeter, 368 Mark warm): „Einer von denen war so gerüht, daß er vorschlug, zur Einweihung die Berliner Philharmoniker auf dem Dach des Weinhaues Huth spielen zu lassen.“

Seitdem wollen die Manager aus dem Haus, in dem schon E.T.A. Hoffmann Gelage veranstaltete, eine Exklusivadresse machen. Ins Erdgeschoß wird, wie früher auch, ein Restaurant einziehen. Die oberen Etagen sollen zu Büros und Eigentumswohnungen umgebaut werden. Für diese Pläne trifft es sich gut, daß das Weinhaus Huth planungsrechtlich kein Wohngebiet ist; das heißt, die Wohnungen dürfen in Gewerberäume umgewandelt werden. Der jetzigen Miete von zirka 2,50 Mark pro Quadratmeter stünden dann 60 Mark und mehr gegenüber. Einziges Problem: Die Mieter und ihre Billigverträge. Die Wohnungen im Weinhaus Huth sind bis zum Jahr 2000 als Sozialwohnungen vermietet.

Bei der Eroberung des Potsdamer Platzes ist Daimler-Benz damit in die Endphase eingetreten, den Häuserkampf.

Hala Choukri wohnt seit sieben Jahren im Haus und ist gerade im achten Monat schwanger. Sie sorgt sich um die Gesundheit ihres werdenden Kindes, denn der Baulärm und die unsichere Zukunft schlagen spürbar auf den Magen. Ihr Ehemann nennt die Konzernstrategie gegen die Mieter wütend, aber zurückhaltend „Versicherungstaktik“. Die Manager der Daimler-Tochter debis, die für das Projekt Potsdamer Platz verantwortlich ist, liefen seit Monaten von Tür zu Tür, berichtet Hala Choukri, „und erzählen uns was von Rissen in den Wänden oder einem Tunnel, der unter dem Haus gegraben werden muß“.

Erste Erfolgsmeldungen konnten die debis-Manager schon an die schwäbische Heimatfront senden: Von den ehemals 28 Mietparteien sind 17 bereits geflüchtet. Die Verbliebenen, darunter vier Kinder zwischen vier und sechs Jahren, versuchen, ihren schwer erträglichen Alltag auf der Baustelle zu meistern. Dreimal haben die Mieter in den letzten Wochen nachts ungenehmigte Bauarbeiten wegen des Lärms von der Polizei stoppen lassen.

Daß im Zentrum des totalen Umbruchs noch Menschen wohnen, hat die Arbeiter anfangs selbst überrascht. In einem Schreiben der Baufirma Baer an die Senatsstelle für Umweltschutz heißt es: „Wider Erwarten wurde festgestellt, daß sich in dem Weinhaus Huth noch Mieter befinden.“ Der Bauherr, Mercedes-Benz, hatte sie darüber nicht informiert. Dafür hat die debis jetzt Konsequenzen gezogen: Ihre eigenen Büroräume im „Huthhaus“ haben sie geräumt. Pressesprecherin von Fellberg: „Ein Arbeiten war nicht mehr möglich. Der Baulärm war unerträglich.“ Wäre das alles nicht so traurig, würde Lutz Wernicke lachen. Der Hausmeister (68 Quadratmeter, 342 Mark warm): „Wo die nicht arbeiten können, soll ich mit meiner Frau und unserem sechsjährigen Sohn wohnen.“

Muß er ja nicht, er kann ja ausziehen – und nur das, sagen die Mieter, ist das Endziel der „Vertreiber aus Stuttgart“. Hans-Jürgen Ahlbrecht hingegen, der Geschäftsführer der debis, kann einen Konflikt „nicht erkennen“. Zwar sei die Situation für die Mieter schlimm, „aber wir unterstützen sie. Notfalls werden die Bewohner mit einem Hubschrauber zu ihrem Haus gebracht.“ Die Kosten für die Mieter-Airline könnte sich der Konzern sparen, denn für den Konflikt gibt es eine einfache Lösung: Die debis stellt, wie in solchen Fällen allgemein üblich, den Mietern für die Dauer der Bauarbeiten eine „Umsetzwohnung“. In der könnten sie wohnen, bis der Krach vorbei ist, und kämen dann zurück.

Nur – an Billigmietern hat im Jahre 1998 niemand mehr ein ernsthaftes Interesse. Ahlbrecht streitet zwar jede „Vertreibungsstrategie“ ab, „Umsetzwohnungen“ aber hat er noch keine angeboten.

Dafür bekam Werner Köbberling vor kurzem Post von einem Anwalt mit der Bitte um ein Gespräch. Zitat: „Meine Mandantin ist daran interessiert, das bestehende Mietverhältnis einvernehmlich zu beenden.“ Seine Mandantin ist die debis. Die erbetenen Gespräche sind Gefechte zur Übernahme. Die Zahl der Waffen ist begrenzt: Geld gegen Mietvertrag. Noch scheinen die Bewohner dem Schmiermittel des Großkapitals trotzig zu widerstehen. Aber ein Blick aus dem Fenster genügt, um zu wissen, daß dieser Gegner nicht aufzuhalten ist.

Das Angebot der debis für die Auflösung des Mietvertrages liegt bei 1.000 Mark pro Quadratmeter. Plus Ersatzwohnung. Die aber ist in jedem Fall viel teurer, manchmal kleiner und fast immer in einer Gegend, die das Gegenteil von Berlin-Mitte ist. Weil die Mieter auf solche Angebote bisher nicht eingegangen sind, die Bauarbeiten aber weitergehen müssen, startete Mercedes am letzten Freitag die erste Offensive: Abends gegen 20.30 Uhr steckten zwei debis- Anwälte den Mietern eine ultimative Forderung in den Briefkasten. Inhalt: „Am Montag, dem 8. Mai, früh acht Uhr, beginnen Baumaßnahmen mit einer Lärmbelästigung, die von der zuständigen Senatsstelle für Umweltschutz als gesundheitsgefährdend eingestuft wurde.“ Die Mieter hätten zwei Möglichkeiten: Sie unterschreiben bis Montag, 0 Uhr, daß ihnen der Lärm nichts ausmacht, oder ziehen bis Dienstag, 0 Uhr, entweder ins Hotel, in ein Haus der Arbeiterwohlfahrt oder in eine nicht näher beschriebene Wohnung am Rand von Berlin. „Der guten Ordnung halber“ erklärt die debis zum Schluß, daß ansonsten „das Mietverhältnis fristlos gekündigt wird“.

Daimler sei Dank grübelt Werner Köbberling nun am Kamin seiner Traumwohnung angewidert über die Frage: Aushalten oder ausziehen? Stellen Sie sich vor, Sie wären stolzer Mieter einer solchen Wohnung.