Wochen-Post: Eine Tiara zum Auseinandernehmen
■ London macht den Berlinern vor, wie sich Boomtown-Metropole buchstabiert
Die Tories drohen den Labour- Wählern mit Arbeitslosenschlangen wie „in Germany“, und was hört man aus Bonn? Kohl again.
Kaum zwei Wochen weg, und was hört man aus der Heimat? Lovis Corinth und George Grosz sind in den Londoner Museen, Grundkreditbank und Bankgesellschaft haben Millionen in die sandigen Berliner Baugruben gesetzt, Oppositionelle tanzen vor Freude über das Mykonos-Urteil, und vornehm sagt der Nachrichtenmann, diejenigen europäischen Länder, die auf einen „kritischen Dialog“ mit dem Iran gesetzt hätten, müßten sich jetzt etwas anderes überlegen. Kohl will noch mal: „Kohl again“.
Ansonsten herrscht Wahlkampf, die BBC hat ihre Abendnachrichten um eine halbe Stunde verlängert. Mehrmals am Tag warnt John Major: Wer Labour wählt, werde bald Schlangen vor den Arbeitsämtern haben „wie Deutschland und Frankreich“.
Die Satiriker sagen, Majors Vertrag mit der Zukunft sei ohnehin nur ein Zeitvertrag für eine Halbtagsstelle. England boomt. Die Londoner schmeißen ihr Geld in feinen Restaurants und tollen Boutiquen aus dem Fenster, Küchenchefs und kompetente Weinkellner werden verzweifelt gesucht.
Die Financial Times druckt eine Beilage mit dem Titel „How to spend it“ (Wie man sein Geld los wird), preist die rettende Idee einer Schmuckdesignerin eine Tiara, die man zu einer Brosche, zwei Ohrringen und einem Haarreifen auseinandernehmen kann und erzählt von Leuten, deren bescheidenes Häuschen in London innerhalb eines halben Jahres um 100.000 Mark im Wert gestiegen ist.
Wow! Mit DM in der Tasche, die täglich weniger Pfund wert sind, ist man als deutscher Besuch froh, drei Rollen „Trevor Extra Strong Mints“ für den Preis von zwei zu erwerben, bestaunt die Annoncen der Immobilienhändler (zwei Zimmer, Küche, Bad für 1.300 Mark die Woche) und fragt sich, wie normale Engländer es sich leisten, in London zu wohnen, zu essen und sich zweimal im Jahr ein neues Jackett oder eine Bluse zu kaufen.
In ganz Berlin gibt es keine Straße, in der nur reiche Leute einkaufen können, kein einziges Viertel, in dem Lehrer nicht einmal eine winzige Stube mieten könnten. Ist dies hier die klassenlose Gesellschaft, von der die Engländer seit dreißig Jahren reden und die sie jetzt als warnendes Beispiel in ihrem Wahlkampf benutzen?
Es ist noch nicht lange her, da fungierte auf der Insel selbst der Bezieher eines taz-Gehaltes als Abgesandter von BMW und Wirtschaftswunder. Die armen Deutschen! Wie wenig Spaß es ihnen gemacht hat, reich zu sein. Und wie wenig sie jetzt draus machen, in der Gemeinschaft der Europäer als abschreckender Fall dazustehen. Kohl again? Und genug Weinkellner, um ans Vereinigte Königreich abgeben zu können. Mechthild Küpper
wird fortgesetzt
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