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Archiv-Artikel

„Wo is‘n HipHop, ey?“

Ungewöhnliches Gedenken an die Reichspogromnacht: Bei der 6. Bremer „Nacht der Jugend“ streiften wieder 2.000 Jugendliche durchs Rathaus – um zu diskutieren, zu feiern oder einfach mal in die Gemächer des Bürgermeisters zu schauen

Mit Ex-Fußballstar Marco Bode wird eine Stunde lang der Wert des Lebens diskutiert

aus Bremen DOROTHEA SIEGLE

Der Bremer Bürgermeister Henning Scherf sitzt in einer kleinen Fensternische vor seinem Dienstzimmer und guckt gedankenverloren auf das Treiben. Vor ihm schieben sich junge Menschen durch die Gänge des historische Rathauses, werfen einen Blick in sein Dienstzimmer und tappen weiter. Ab und zu fragt ihn ein junger Mensch nach dem Weg. Wo denn der Kaminsaal sei. Der Bürgermeister richtet sich auf, weist den Weg, lächelt breit.

Nein, Herr des Hauses ist der 2-Meter-Mann heute nicht. Es ist „Nacht der Jugend“ im Bremer Rathaus. Die Bude ist voll. Seit sechs Jahren öffnet das Rathaus Anfang November seine schweren Pforten und lädt Bremens Jugend ein zu Diskussionen, Musik, Tanz und Theater – um auf jugendgemäße Weise an die Reichspogromnacht zu erinnern. Schule, Menschenrechtsorganisationen, Vereine und unterschiedlichste Glaubensgemeinschaften – von den Bahai bis zu den Katholiken – sowie der Bremer Senat organisieren den Event. Den haben SPD und CDU sogar im Koalitionsvertrag festgeschrieben – als moderne Art des Gedenkens.

Dafür freilich kommt nicht jeder. „Wo is‘n HipHop, ey?“ fragt ein junger Mann in hängenden Hosen seine lässigen Begleiter. HipHop ey ist im Festsaal im ersten Stock. Dort fegen junge Frauen von der Gesamtschule West übers Parkett, und Bremens Jugend johlt.

Im Dienstzimmer des Bürgermeisters wird es indes still. Zeitzeugen erzählen, wie sie die Jahre des Nationalsozialismus erlebt haben. Zumeist angegraute Zuhörer sitzen um den riesigen runden Tisch – nur sechs junge Gäste haben sich hierher verirrt.

Die „Nacht der Jugend“ ist eine Gratwanderung zwischen Erinnerung und Entertainment: „Die Kernfrage lautet: Gelingt es uns, nicht nur Party zu machen, sondern die Jugendlichen auch inhaltlich zu erreichen?“, sagt Helmut Hafner, Initiator der Nacht. Und bei einigen gelingt es: Die sitzen in der oberen Halle des Rathauses im Halbdunkel unter hängenden Koggen und diskutieren über das Thema: „Ist jeder Mensch wertvoll?“ In sechs Gesprächskreisen haben sie sich zusammengefunden, in jeder Gruppe streiten Vertreter der lokalen Prominenz mit – vom Anwalt bis zum Ex-Fußballer. „Wenn jeder Mensch immer wertvoll ist, müsste man dann nicht Gefängnisstrafen abschaffen und versuchen, die Menschen zu bessern?“, fragt ein junger Mann in die Runde. Ex-Werder-Fußballer Marco Bode sieht das anders: „Ich finde, man muss abwarten, bis ein Mensch seine Straftat bereut.“ Fast eine Stunde streiten die Jugendlichen über den Wert des Lebens. Später wird hier getanzt.

Mehr als 2.000 Besucher streifen durchs Rathaus, betrachten die Ölgemälde, bewundern die edlen Armaturen auf den Toiletten. Erst gegen 23 Uhr leert sich das Rathaus langsam. Im Kaminzimmer wird noch ein wenig gefeiert. „Wir schwörn auf euer Grundgesetz und eure Demokratie. Doch so richtig fair, war es noch nie“, rappt dort die Gruppe Soulrender. Auf den lederbezogenen Stühlen sitzen eine Hand voll Jungs und nicken rhythmisch mit den Köpfen. Und an der Decke zittern leicht die Lüster.