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Archiv-Artikel

Wo die Wirklichkeit selbst verrückt spielt

Die Aggression der Verlierer: Von der Wirtschaftskrise war kaum die Rede, dennoch zeigten die drei argentinischen Theaterstücke zu Gast im HAU Stimmungen der Unterdrückung, der Ungewissheit und der Trauer. Bis zum Amoklauf

Hat der Mann die Krise? Verschwitzt hockt er auf der Ladefläche eines Kleinlasters. Es wäre kein Wunder. Der Lkw schaukelt, die Grillen zirpen zwar, aber Frust, Aggression und körperliche Unterdrückung liegen in der Luft, noch bevor zwischen ihm, Chaco und dem Mann, den sie Pa nennen, der erste Streit auf dem Weg zum Schmuggel in die Grenzstadt Foz entbrennt. Am Ende der Fahrt werden nur zwei die Grenzstadt erreichen.

„Foz“ heißt auch das Theaterstück von Alejandro Catalán, das mit minimalistischen Vorgaben Spannung erzeugt und viel Assoziationsraum lässt. In Städten wie Foz, an den Rändern, leben in Argentinien die Reformverlierer, für die sich die Lage noch nicht wesentlich verbessert hat. Angst, Ungewissheit und unterschwelliger Ungehorsam begleiten die Fahrt der drei auf dem Laster. Catalán agitiert nicht, sondern betreibt eine Stimmungsstudie.

„Foz“ ist eine von drei argentinischen Theaterproduktionen, die im Rahmen des Festivals „Buenos Aires – Berlin 2004“ im Hebbel am Ufer zu sehen waren. In dem breit angelegten Programm des Metropolenaustauschs nahmen Kunst, Film, Musik und Tangoabende den größten Raum ein, während die rege argentinische Theaterszene unterrepräsentiert blieb. Dabei gebührt ihr gerade deshalb Aufmerksamkeit, weil sich die freien Gruppen inhaltlich und ästhetisch vom staatlich geförderten Programm schon längst abgekoppelt haben. Der ökonomische und politische Notstand 2001 radikalisierte die Theaterszene. „Man muss verrückter als die Realität um einen herum sein“, beschrieb Rafael Spregelburd die Herausforderung vieler junger Theatermacher, als er vor einem Dreivierteljahr in Berlin „Die Dummheit“ vorstellte. Ein Stück mit hundert Seiten dichter Dialoge und doch nur ein Teil einer menschlichen Komödie, die mit Nebenszenen überfüllt ist, Versatzstücke aus B-Movie und Actionkrimi kombiniert und im nächsten Mai an der Schaubühne inszeniert wird.

Crazier than reality? Die drei Gastspiele am HAU differenzierten das Bild. Bescheidener und kleiner fallen die Stücke aus, die unter schlechten finanziellen Bedingungen entstanden. „Foz“ geht dennoch sehr experimentell mit dem Korpus Theater um: Die Bühne, das ist eine wenige Meter breite, matt beleuchtete Lkw-Ladefläche, auf der die Schauspieler zwischen Holzbrettern und Plastikplanen ihren Spielraum finden müssen. In der materiell versehrten Umgebung ist von der Wirtschaftskrise nur indirekt die Rede.

Das zeichnet auch das Stück von Daniel Veronese aus. In seinem „Frauen, die von Pferden träumten“ bleibt unter drei Brüdern nur angedeutet, dass ein Familienbetrieb schließen muss. Erinnerungen, Träume, Berufspläne, sexuelle Seitensprünge wirbeln durcheinander. Unruhe kontrastiert mit Apathie; ein ständiges Kommen und Gehen durch zwei Sperrholztüren, dem die junge Lucera mit einem Amoklauf das Ende setzt. Die grobe Figurenzeichnung fällt unangenehm ins Gewicht, aber man ahnt, dass Veronese ein Zeitgefühl auf den Punkt brachte, als er das Stück 2001 während des Ausnahmezustands in Buenos Aires inszeniert hat.

Vor allem die deutschsprachigen Festivals sind eine Möglichkeit geworden, solche Arbeiten nicht nur in Europa zu zeigen, sondern auch zu koproduzieren. So kommt es nicht von ungefähr, dass „Los Muertos“ von Beatriz Catani und Mariano Pensotti am Hebbel am Ufer die Uraufführung erlebte, wobei der Abend noch unausgereift wirkte. Zwei Wirklichkeitspartikel werden komponiert: Rechts auf der Bühne kommentiert ein Schauspieler Videoaufnahmen von argentinischen Friedhöfen. Links versucht ein Schauspieler, allein das Stück „Die Toten“ von James Joyce nachzuspielen, in dem er vor zwanzig Jahren aufgetreten ist. Das Fehlen der anderen mitzuspielen gelingt ihm zwar, aber die Verkettung von Tod im Theater mit den Opfern der Militärdiktatur bleibt Behauptung. Dennoch begreift man schon durch die formale Inszenierung von Fakten, realer Biografie und gesellschaftlichen Vorgängen, wohin sich das Stück bewegen möchte. So will man die Realität auf der Bühne eben doch wieder sehen. SIMONE KAEMPF