: Wo bleiben Reformen?
(...) Wenige große Demonstrationen, schon wird fast offen diskutiert, Radio DDR ist nicht wiederzuerkennen, Amnestie auf allen Ebenen, wird „plötzlich“ deutlich, daß viele in der SED sich schon Gedanken gemacht haben, was geändert werden muß. So monolytisch, wie in der taz unterstellt, war der Parteiapparat wohl doch nicht.
Vergessen scheint, daß wir um manche Sachen seit 20 Jahren demonstrieren, sich nichts bewegt hat, Wackersdorf nicht wegen der vielen dort blutig geschlagenen Köpfe aufgegeben wurde, die Gewerkschaften zum Beispiel seit 1986 erfolglos gegen den § 116 AFG (unter Vorwand Ausgesperrte stehen ohne Lohn da) demonstrieren, das Beschäftigungsförderungsgesetz 1990 trotz der Proteste verschärft verlängert wird...
Den kleinen Unterschied zwischen hier und DDR laßt Ihr mal lieber außen vor. Wenn im Sozialismus die politischen Mehrheitsverhältnisse kippen, sind die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zentral infrage gestellt, weil Eigentum und Verfügung über die Produktionsmittel beim Staat liegen. Somit ist dem System immanent eine starke Notwendigkeit, letztlich demokratisch zu sein und sich der Kritik zu stellen.
Wir können hier zetern, demonstrieren, Steine schmeißen, uns brutal mißhandeln lassen, andere Mehrheiten ins Parlament wählen, unsere freie Meinung in der taz schreiben, an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen ändert sich nichts dadurch. Wir sehen doch, wie der SPD/AL-Senat ausgehungert wird, wirtschaftlich. Da fällt uns nichts anderes ein, als geduldig zu sein, mehr ist eben nicht drin.
Schon so kleine Reförmchen wie Bildungsurlaub auch für ArbeitnehmerInnen über 25 Jahre werden von der IHK Berlin als Kriegserklärung begriffen. Und wie sieht es mit der „Mitbestimmung“ in den Betrieben aus? Da kann ein Betrieb, der eine kleine Zeitung herausgibt, sich angesichts der gewaltigen Konkurrenz nicht halten, die große Springer AG steigt ein, und keiner der Betroffenen kann über unsere Zukunft mitreden. Tendenzschutzparagraphen, Entscheidungen über Rationalisierung und Entlassungen liegen beim Verlagseigentümer. Wo bleibt ein bißchen Reform des Berliner Pressegesetzes? Also da müssen wir noch Geduld aufbringen. Zuviel können wir dem Senat doch nicht zumuten.
Marianne Landsberg, Betriebsratsvorsitzende Volksblatt Berlin
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