Wladimir Kaminers Zukunftsversion: Hey Kids, wie gehts weiter?
Die Welt von morgen schon heute: Die Kinder von Wladimir Kaminer berichten aus der Zukunft. Ist da für einen Vater wie ihren noch Platz?
Wir sitzen mit Mama und den Kids auf dem Balkon, Vorderhaus, erster Stock. Das Wetter ist perfekt, nicht zu kalt und nicht zu heiß. Das vegane nepalesische Restaurant im Erdgeschoss ist knackevoll, der Geruch von gekochten Teigtaschen, Ananas und Desinfektionsmitteln drängt in die Wohnung.
Lustige Gesichter lächeln uns von den Straßenlaternen und Bäumen zu, sie wollen uns in die Zukunft führen, die nebelig ist. Deswegen formulieren sie auf ihren Plakaten möglichst undeutlich: Respekt, Kompetenz, Sicherheit, aber normal, sozial gerecht aufstocken, zurück zur Normalität, gemeinsam in die Zukunft. Direkt vor meinem Balkon steht etwas über die Autobahn 100. Wollen sie den Ausbau beschleunigen oder verhindern?
Meine Kindheit und Jugend fand unter solchen nichtssagenden Plakaten statt. Sie waren eine immer präsente Requisite, die uns im Alltag begleitete. Sie hingen das ganze Jahr über an den Geschäften und Hausfassaden: mutig in die Zukunft, unser Ziel ist Kommunismus, Streichhölzer sind kein Kinderspielzeug, Fünfjahresplan in vier Jahren.
Niemand hat sie kritisch hinterfragt, niemand regte sich auf: Warum sollten wir diesen mysteriösen Fünfjahresplan in vier Jahren schaffen, und was machen wir dann das ganze fünfte Jahr? Autobahn ausbauen? Allen war klar, unsere Regierenden taten nur so als ob. Sie wollten die Welt nicht wirklich umbauen, vor allem aber mussten wir, Bürger, nichts tun, nur loyal sein und optimistisch grinsen. Es war nicht alles gut damals, aber irgendwie entspannter war es schon.
Hey Kids, wie sieht die Zukunft aus?
Heute leben wir in einer sehr komplexen Welt, die Angst macht. Die industrielle Ökonomie mit ihrem vorgegebenen Lebenslauf („Du gehst einmal studieren und arbeitest bis zum Rentneralter“) liegt im Ruin. Alte politische Parteien stecken in der Krise, die Familie wird umstrukturiert. Die Jugend zieht es vor, alles Mögliche gleichzeitig zu studieren, in Projekten zu arbeiten und in Kollektiven zu leben. Beinahe täglich entstehen neue Identitäten, neue Gender, neue soziale Rollen.
wurde 1967 in Moskau geboren, ist seit 1990 Berliner. Der Schriftsteller („Russendisko“) lebt mit seiner Familie in Prenzlauer Berg.
Millionen Menschen sind unterwegs, sie vermuten ausgerechnet in Deutschland einen besseren Ort, bringen ihre Kulturen, ihre Religionen, Bakterien, Viren mit. Dazu spielt das Klima verrückt. Die Menschen von den Plakaten wollen beruhigend wirken: Lehnt euch zurück in den Sessel, ihr braucht uns nur zu wählen, wir schaffen das, niemand bleibt im Regen stehen, vorausgesetzt, wir werden Minister. Natürlich sind das leere Versprechen. Die Plakate kennen die Zukunft nicht – aber die Kids. Immerhin werden sie diese Zukunft aufbauen.
Hey Kids, wie sieht die Zukunft aus? Wird die Autobahn aus- oder abgebaut?, fragte ich auf dem Balkon. Du wirst dich wundern, Papi, lachten sie. Wir werden die Autobahn 100 um die Stadt mächtig ausbauen, mit zehn Fahrradstreifen in beiden Richtungen, Autos müssen raus aus der Stadt auch die selbstfahrenden Elektroautos werden sich nicht durchsetzen, sorry, so viel Strom haben wir nicht. Die Parteien werden abgeschafft, tut uns leid für die Menschen auf den Plakaten, die Bürgerinnen und Bürger werden das Regieren übernehmen.
Das Amt der Bürgermeisterin wird jedes halbe Jahr von einer anderen Bürgerinitiative besetzt – in der alphabetischen Reihenfolge von ALvonSo (Arabische Lesben von Sonnenallee) bis Zynische Tierfreunde e. V. In leer stehende Büroräume und ehemalige Gewerberäume des Einzelhandels ziehen Berliner Kommunen, Menschen, die sich nach Interessengruppen zusammentun und ihre „Wohn- und Arbeitsbüros“ als alternative Lebensentwürfe verwirklichen. In die Betonklötze der leeren Parkhäuser und in die pleitegegangenen Einkaufspassagen, die zu Kollateralschäden der Internetökonomie wurden, ziehen Landwirte ein, die Gemüse und Kunstfleisch ökologisch gerecht anbauen.
Eine ruhmvolle Zukunft für die Berliner Küche
Die unzähligen Fitnessstudios werden zu freiwilligen Stromerzeugungsstätten umgebaut, wo die Menschen an Geräten trainieren, die gleichzeitig Strom für die Stadt (nicht für Autos!) produzieren können. Der Berliner Flughafen wird geschlossen. Wenn Gott wollte, dass die Menschen fliegen, hätte er ihnen Flügel gegeben.
Die Hertha BFC spielt erfolgreich in der Frauenfußball-Bundesliga, in der Mitte der Tabelle, behauptet sie sich sogar gegen die BorussInnen Dortmund und WerderInnen Bremen. Aufgrund sinkender Einschaltquoten werden Männer etliche Sportarten zugunsten der Frauen aufgeben und sich auf Dart, Gymnastik mit Band und Synchronschwimmen konzentrieren.
Die Berliner Küche hat eine ruhmvolle Zukunft, sie ist überall auf der Welt, aber besonders in China hochgeschätzt. Die Deutschen werden paneurasisch kochen. Ein typisches Gericht wird die Berliner Pho-Suppe sein mit Falafelnudeln und Tofu-Currywurst. Die türkischen Läden bieten fleischfreie Döner mit Melone und Salat an, die Russen drehen Russian Sushi: Reistaschen mit Salzgurke und Schnaps.
Und ich? Was mache ich in dieser Welt? Nichts, meinten die Kinder. Du sitzt weiter auf dem Balkon und erzählst, dass früher alles besser war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin