Wirtschaft: Hightech-Plasma als Weltretter
Ein Stuttgarter Start-up will Erdgas in der chemischen Industrie überflüssig machen. Die erforderlichen Zutaten: Plastikmüll, CO2 – und noch ein bisschen Risikokapital.

Von Jürgen Brand↓
Kunststoffabfälle, die nicht auf Müllhalden, schlimmstenfalls in Ländern im globalen Süden oder im Meer landen, sondern aus denen neue Windeln, Matratzen oder Handyhüllen entstehen. Tonnenweise CO2, das nicht die Atmosphäre verschmutzt, sondern in seine Bestandteile zerlegt und direkt weiterverarbeitet wird. Eine chemische Industrie, die nicht länger Unmengen von teurem Erdgas oder Kohle benötigt und so das Klima weiter schädigt. Was Maike Lambarth und Stephan Renninger in ihren Labor- und Büroräumen in einem unscheinbaren Industriegebiet in Stuttgart-Degerloch skizzieren, klingt wie eine schöne Utopie, irgendwie nicht von dieser Welt. Aber genau das wollen sie mit ihrem Start-up Cyclize hinbekommen.
Die Chemieindustrie steht in diesen Zeiten neuer globaler Auseinandersetzungen und des menschengemachten Klimawandels vor einigen Herausforderungen. In riesigen Anlagen verbrennen die Konzerne Unmengen von Erdgas, um die gewaltigen Energiemengen zu erzeugen, die sie für ihre chemischen Prozesse benötigen. Ein gar nicht so kleiner Teil des dort verbrauchten Erdgases dient auch als Rohstoff, um daraus Synthesegas, kurz Syngas, herzustellen, einen der wichtigsten Grundstoffe der chemischen Industrie. Es wird benötigt, um Ammoniak, Methanol, synthetische Kraftstoffe und viele weitere Chemikalien herzustellen. Nicht nur aus ökologischer Sicht scheint es sinnvoll, nach Alternativen zum Erdgas zu suchen: Durch die Angriffe Israels und den USA auf den Iran ist der Gaspreis in den vergangenen Tagen deutlich gestiegen.
Ziel: Defossilisierung
„Wir wollen die Welt ein bisschen besser machen“, sagt Stephan Renninger, der Technikchef von Cyclize. Und das gleich in dreifacher Hinsicht: Das vom Cyclize-Team entwickelte Verfahren könnte ein wichtiger Schritt zur Defossilisierung der Chemieindustrie sein, weil Erdgas durch nicht-fossile Alternativen ersetzt wird. Gleichzeitig wird jede Menge Kunststoffabfall wiederverwertet, Kreislaufwirtschaft ist hier das große Schlagwort. Und schließlich wird kein CO2 erzeugt, sondern sogar verbraucht.
Renninger ist der große Tüftler im Cyclize-Gründungsteam. Er hat an der Universität Stuttgart Nachhaltige Elektrische Energieversorgung studiert und am Institut für Photovoltaik der Uni promoviert. Zusammen mit Maike Lambarth forschte er nach Wegen, um Kohlenmonoxid nachhaltig herzustellen, ein Grundstoff für alle möglichen Dinge. Dafür entwickelte er einen Plasmareaktor, um CO2 zu spalten. Eigentlich wollte das Team daraus synthetischen Schiffsdiesel herstellen. Der wäre aber viel zu teuer gewesen, das hätte keine Reederei zahlen wollen. Sie erforschten und prüften weitere Anwendungsmöglichkeiten, schließlich starteten sie 2021 ihre Defossilisierungs-Mission mit der Cyclize GmbH.
Kreislaufwirtschaft war schon immer ihr Ding
Heute ist Lambarth Cyclize-Geschäftsführerin. Renninger hatte sie schon während seiner Promotion ins Projektteam geholt: „Ich hatte sehr Bock, mit ihr zusammenzuarbeiten, weil ich wusste, dass sie sehr organisiert ist. Und das ist nicht unbedingt meine Stärke.“ Lambarth hatte im Photovoltaik-Institut Energietechnik studiert und schon Gründungserfahrung: Sie ist Mitbegründerin der „Raupe Immersatt“ in Stuttgart, des ersten Foodsharing-Cafés in Deutschland, Kreislaufwirtschaft war also schon immer ihr Ding. Außerdem gehören zum Cycliz-Gründungsteam Jan Stein, der sich unter anderem um die IT kümmert, und der Betriebswirt Dominik Novakovic.
Der Begriff „cyclize“ beschreibt in der Chemie einen Vorgang, bei dem sich Kohlenstoffketten zu einem Ring schließen. Cyclize will die Kohlenstoffnutzung in eine Kreislaufwirtschaft verwandeln, Kernelement dabei ist die Plasmatechnologie. Plasma gilt als vierter Aggregatzustand, neben fest, flüssig und gasförmig. Auf der Erde kommt Plasma in der Natur eher selten vor, etwa kurzzeitig in Blitzen, aber die Sonne beispielsweise besteht hauptsächlich aus Plasma.
CO2 und Plastikmüll als Rohstoff
Die Zutaten zum Cyclize-Verfahren: Kunststoffabfall, CO2 und Strom. Der Plastikmüll kommt entweder aus dem gelben Sack, egal ob Windeln, PET-Flaschen oder aus der Industrie in Form von Produktionsüberschüssen. Renninger: „Der eine Lastwagen bringt vielleicht besonders viele Pampers, der andere Matratzenschäume, und heraus kommt trotzdem das gleiche Endprodukt.“ CO2 ist in der Regel in Chemieparks, wo die Cyclize-Anlagen künftig stehen sollen, bereits jetzt reichlich vorhanden, dort gibt es oft schon CO2-Netze. Pro Kilo Kunststoffmüll können bis zu fünf Kilo CO2 verwertet werden. Idealerweise laufen die Anlagen mit Strom aus erneuerbaren Energien. Das Verfahren benötigt nach Cyclize-Angaben nur etwa ein Drittel der Energiemenge, die für die Wasserstoffproduktion durch Elektrolyse benötigt wird und ist schon im jetzigen Strommix – trotz Kohle- und Gasstrom – zumindest CO2-neutral.
Die Kunststoffabfälle werden erhitzt, verflüssigen sich und werden schließlich zu Gas. CO2 wird zugeführt, dann kommt der Energieschub, um den Plasmaprozess zu starten, bei dem sich die Moleküle der Abfallstoffe auftrennen. So entsteht Synthesegas, das hauptsächlich aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid besteht. Das Gasgemisch muss dann noch gereinigt werden, bevor mit seiner Hilfe wieder neue Produkte entstehen können: Schäume, Farben, bunte Küchenschwämme oder gelbe Quietsche-Enten.
Erste Patente angemeldet
Die jungen Forschenden, alle aus dem Großraum Stuttgart, bekamen vor drei Jahren 1,6 Millionen Euro Fördergeld vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klima. Damals meldete das Team die ersten Patente an. Der erste Plasma-Reaktor war noch ziemlich klein, passte in eine Hand. 2024 brachte eine sogenannte Seed-Finanzierungsrunde, bei der Investor:innen Geld gaben, bevor Umsätze generiert wurden, weitere fünf Millionen Euro. Damit bauten sie eine deutlich größere Anlage an der Uni Stuttgart und erweiterten das Team. Bis ins vergangene Jahr hinein waren die Cyclize-Gründer:innen zu viert, inzwischen arbeiten 20 Frauen und Männer an einer saubereren Chemieindustrie.
Eine der großen Herausforderungen ist, die Cyclize-Technologie perfekt funktionierend von Laborgröße auf Industriemaßstab zu bringen. „Wir haben jetzt schon eine Skalierung um den Faktor von fast 1.000 hingelegt. Aber wir müssen das noch einmal um den Faktor 100 größer machen, bis wir tatsächlich an dem Ziel sind, das wir uns gesteckt haben“, sagt Renninger. Dafür braucht das Stuttgarter High-Tech-Start-up deutlich mehr Kapital. Für dieses Jahr ist die nächste große Finanzierungsrunde geplant, Ziel sind 20 Millionen Euro. Die beiden sind optimistisch, dass das auch klappt. Die nächsten Schritte sind dann die erste kommerzielle Cyclize-Anlage und schließlich in einigen Jahren die erste Großanlage in einem Chemiepark.
Die ambitionierten Stuttgarter Defossilierer:innen wollen ihre Anlagen künftig nicht an Chemie-Riesen wie Bayer oder BASF verkaufen, sondern sie behalten und betreiben. Und das möglichst weltweit. Nur so können sie die Technik kontinuierlich weiterentwickeln und verbessern. Geld verdienen sie dann durch den Verkauf des wertvollen Synthesegases. Die Plasmatechnologie könnte auch anderweitig genutzt werden, etwa für eine Zementherstellung mit deutlich weniger CO2-Ausstoß oder das Abfangen von CO2 aus der Luft. Ihre Vision ist groß: bis 2050 Hunderte Megatonnen Kohlendioxid jährlich einsparen. Jetzt müssen nur noch die Genehmigungsverfahren in Deutschland und Europa schneller werden und die Großkonzerne dem Trump‘schen fossilen Rückschritt widerstehen, dann könnte das Stuttgarter Gründer-Team die Welt mit ihrem Hightech-Plasma aus Müll tatsächlich ein bisschen besser machen.
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