Wirtschaft: Betrieb besetzt für eine neue Welt
Es ist nicht irgendein Lastenrad, das rote Bike vom Collettivo di Fabbrica. Es ist von Arbeitern gebaut, die seit drei Jahren ihre Fabrik in Campi Bisenzio bei Florenz besetzt halten. Sie kämpfen nicht um Sozialpläne, sondern darum, ökologisch und sozial sinnvoll zu arbeiten. Beworben wurde das Projekt vorige Woche in Stuttgart.
Von Franziska Mayr und Gesa von Leesen
Gegen 17.30 Uhr fährt Tobi Rosswog mit einem knallroten Lastenrad vors Gebäude der Straßenzeitung Trottwar. Der 33-Jährige ist an diesem Nachmittag aus Ludwigsburg gekommen, seit Mitte Juni hat er 14 Städte abgeradelt, um das Lastenrad mit Akku vorzustellen und um Unterstützung für das Collettivo di Fabbrica zu werben. Die Linke hat den Abend in Stuttgart organisiert, rund 40 Leute sind gekommen, von jung bis alt. In ökosozialistischen Kreisen ist das Collettivo bekannt, weil es so beispielhaft ist und den Traum von einer verdammt nochmal besseren Welt realistischer erscheinen lässt.
Im Sommer vor drei Jahren, am 9. Juli 2021, einem Freitag, bekamen die 422 Beschäftigten und die 80 Leiharbeiter der GKN-Fabrik in Campi Bisenzio eine E-Mail von der Geschäftsleitung: Sie seien fristlos gekündigt, bräuchten am Montag nicht zu kommen, die Fabrik werde geschlossen. Das war illegal, doch die Arbeiter gingen nicht als erstes zum Gericht oder zu ihrer Gewerkschaft, sondern in ihre Fabrik. Und besetzten sie. Wie es dazu kam und wie die Lage heute ist, das konnten die Besucher:innen bei Trottwar per Film und durch Erzählung von Rosswog erfahren.
Arbeit und Wissenschaft: am besten zusammen
Bereits 2007 begann die Belegschaft von GKN in Campi Bisenzio, einem von 50 Standorten des britischen Automobilzulieferers, sich basisgewerkschaftlich zu organisieren. Grund waren Unstimmigkeiten mit der italienischen Metallgewerkschaft FIOM und deren Stellvertreterpolitik. Die Arbeiter begannen sich wöchentlich zu treffen, über ihre Rechte zu diskutieren. Mit dem Aufkauf der Fabrik durch die britische Investmentgesellschaft Melrose Industries (Motto: „Buy, improve, sell“) 2018 wurde aus der losen Arbeiterorganisation das Collettivo di Fabbrica. Das ermöglichte eine schnelle Mobilisierung nach der Kündigungswelle: Viele Arbeiter brachen umgehend zum Fabrikgelände auf, übermannten die dort stehenden Wächter und begannen ihre permanente Betriebsversammlung, geregelt nach dem italienischen Arbeiterstatut von 1970. Die Besetzung dauert bis heute an. Und sie versteht sich als Fortführung der italienischen Klassenkämpfe der 1960er- und 1970er-Jahre.
Rosswog ist von Beruf Aktivist ve und widmet sein Leben vor allem dem Kampf um eine Welt ohne Ausbeutung und ohne Zerstörung der Umwelt. In Wolfsburg ist er aktiv bei „VW Verkehrswende“, und er gehört zur kleinen deutschen Soli-Gruppe vom Collettivo. Die italienischen Arbeiter wollen in ihrer Fabrik – und so betrachten sie das Gelände – eine ökologisch und sozial sinnvolle Produktion aufbauen. Wie soll das konkret aussehen?
Auf der Suche nach der Antwort bildete sich bald nach der Fabrikschließung eine solidarische Forschungsgruppe, die einen Konversionsplan ausarbeitete. Eine der beteiligten Wissenschaftler:innen war Francesca Gabbriellini, Doktorandin der Zeitgeschichte an der Universität Bologna. Mit Unikolleg:innen aus ihrer Heimatstadt Pisa hatte sie sich gleich zu Beginn der Besetzung daran beteiligt, in der Fabrik geschlafen, Flugblätter gestaltet und verteilt. „Dann sind wir von der Basismilitanz übergegangen in eine wahre und echte ‚Konvergenz des Wissens‘, bei der die Fähigkeiten der Arbeiter auf jene der akademischen Welt trafen“, berichtet die 35-Jährige auf Kontext-Nachfrage. Der Plan: Statt Antriebswellen für Fiat, Toyota, BMW und Co. sollen Lastenräder und Solarpaneele ohne Lithium, Silizium und seltene Erden entstehen, ausrangierte Paneelen sollen entsorgt und deren Rohstoffe recycelt werden. Und das alles in der Hand der Genossenschaft ex-GKN for Future.
Dafür braucht es Geld, und das sammeln die Genoss:innen seit einigen Monaten. Eine Million Euro ist das Ziel, berichtet Rosswog, 800.000 hätten sie bereits. Die Idee: Mit genügend Eigenkapital ist es möglich, bei einer genossenschaftlichen Öko-Bank, die das Collettivo bereits unterstützt, einen Kredit aufzunehmen, um das Fabrikgelände zu kaufen. In Italien sichert das Marcora-Gesetz von 1985 bei Schließung eines Betriebs das Vorkausfrecht für Beschäftigte und die mögliche Übernahme als Genossenschaft.
80 Jahre Industriegeschichte interessieren Meloni nicht
Vor etwa vier Wochen war Rosswog unten, um das Rad für die Deutschlandtour abzuholen. „Klar, die Euphorie von vor drei Jahren ist etwas abgeflacht, aber es sind immer noch 140 Leute auf dem Gelände, sie arbeiten, bewachen, diskutieren.“ Viele mussten andere Jobs annehmen, um die Familie zu ernähren, die Verbleibenden würden von Spenden leben. Dario Salvetti ist erschöpft nach drei Jahren Kampf, erzählt er im Gespräch mit Kontext. Der 40-jährige Betriebsrat war seit 2013 Montagearbeiter bei GKN, seit 2017 ist er Teil des Collettivo. „Aber vor allem bin ich, wie die anderen auch, sehr stolz, weil es uns innerhalb eines Entlassungsprozesses gelungen ist, einen Prozess der sozialen Würde und des Widerstands in Gang zu setzen, der bereits ein kleines Stück der italienischen Arbeiterbewegung darstellt.“
Im Mai fand am Gelände zum zweiten Mal ein Arbeiterliteratur-Festival statt. „Zwei, drei Tage vorher bekam ich einen Anruf: Unglaublich, die Stromversorgung wurde sabotiert“, erzählt Rosswog. Mit anderen Aktivist:innen besorgte er Solarpaneele, sie schafften es, dass die Teile binnen 24 Stunden in Campi Bisenzio waren, auch Notstromaggregate wurden herbeigeschafft. „Die Grundversorgung ist jetzt gesichert“, erzählt er und lacht. Solidarität ganz praktisch. Besser als Soli-Adressen ohne Folgen, wie er es in den vergangenen drei Jahren oft gerade aus deutschen Gewerkschaftskreisen erfahren hat. „Da passiert nicht viel. Nur von einem einzelnen IG-Metall-Landesverband, der IG Metall Berlin-Brandenburg, kommt was.“ Sonst bleibe es bei warmen Worten.
Vielleicht, weil gerade gestandenen Gewerkschaften wie der großen IG Metall der Gedanke an Vergesellschaftung von Unternehmen mittlerweile eher unangenehm ist. Zwar steht die Forderung noch in ihrer Satzung, aber de facto ist sie Sozialpartner, konzentriert sich auf Tarifkämpfe.
Dafür ist die Solidarität für das Collettivo vor Ort umso größer: aus der Bevölkerung, den örtlichen Fußballclubs, der Kirche, dem Zivilschutz, autonomen Zentren. Aber auch politische Vertreter:innen, etwa die Gemeinde Campi Bisenzio, Wissenschaftler:innen und vor allem die Fridays for Future Italien sind dabei – für einen gemeinsamen Klima- und Klassenkampf. Unter dem Motto „Insorgiamo“ („Wir erheben uns“) – angelehnt an die florentinischen Partisanen – veranstaltet das Collettivo Demos, betreibt Bündnisarbeit und unterstützt andere im Kampf für Klimaschutz und Arbeiterrechte. Unter immer schwereren Bedingungen. Denn es fehlen Lösungen der nationalen Politik. „Und mit der Regierung Meloni ist es noch schlimmer geworden“, sagt Betriebsrat Salvetti. Trotz mehrfacher Treffen mit dem Collettivo kam von ihr kein Wort gegen die Entlassungen, auch die Gerichtsurteile änderten nichts daran. „Dabei sind es die Politiker:innen, die das Ministerium ‚Made in Italy‘ geschaffen haben, die zulassen, dass ein Finanzfonds eine 80-jährige italienische Industriegeschichte auslöscht und Raum für Spekulationen lässt.“
Ein halbes Jahr ohne Lohn
Am 27. Dezember 2023 versuchte Francesco Borgomeo, Inhaber der Fabrik seit Dezember 2021 und Ex-GKN-Manager, erneut die Arbeiter zu entlassen. Erfolglos. Das Amtsgericht Florenz befand sein Verhalten als gewerkschaftsfeindlich und schrieb ihm die Ausarbeitung eines alternativen Industrieplans vor. Borgomeo legte Berufung ein und verlor diese vergangene Woche. Die Arbeiter sind somit derzeit nicht gekündigt, sondern unbefristet beschäftigt – und trotzdem seit sechs Monaten ohne Lohn.
Ab Mai dieses Jahres zeltete er 35 Tage lang mit Kolleg:innen des Collettivo zuerst vor den Regionalbüros und dann auf der Piazza Indipendenza in Florenz. 13 Tage davon im Hungerstreik. Bis die Region Toskana finanzielle Mittel zur Unterstützung derer einführte, die regelmäßig beschäftigt sind, aber seit einem halben Jahr nicht entlohnt werden. Das hilft vielen Arbeitern, den Sommer zu überstehen, reicht aber nicht: Deshalb, heißt es aus dem Collettivo, müsse bald ein öffentliches Konsortium geschaffen werden, ein Zusammenschluss von selbstständig bleibenden Unternehmen, an dem Genossenschaften, aber auch Gemeinden, Regionen, Universitäten und Forschungszentren beteiligt sind, um krisengebeutelte Industriegebiete zu reaktivieren. Dieses soll dann das ehemalige GKN-Werk übernehmen und in Campi Bisenzio ein Zentrum für erneuerbare Energien und nachhaltige Mobilität schaffen. Vielleicht könne man dann im Herbst mit der Produktion und der Entlohnung starten. Der passende Gesetzesvorschlag für ein solches Konsortium liegt immerhin schon bei den zuständigen Kommissionen des toskanischen Regionalrats. Zudem hat die Region die nationale Regierung offiziell aufgefordert, das Unternehmen unter Kontrolle zu bringen, da es keine Gehälter bezahlt, Gerichtsurteile nicht respektiert, nicht zu den Verhandlungen mit den Arbeitern erscheint und keinen Reindustrialisierungsplan vorlegt. Auch ein nationales Gesetz gegen Standortverlagerungen hat das Collettivo verfasst.
Rosswog ist indes mit dem Lastenrad vom Collettivo unterwegs, um auch in Deutschland die Idee zu verbreiten, dass Arbeiter:innen ihr Geschick selbst in die Hand nehmen. Und um Geld zu sammeln für die Kollegen in Campi Bisenzio. Entweder durch Spenden oder Genossenschaftsanteile oder durch den Kauf eines Rades. Etwa fünf Stück pro Woche würden gerade von einer Handvoll Arbeiter gebaut. „Damit überhaupt etwas passiert“, sagt Rosswog.
Wer nicht gerade Lastenräder baut, steht oft auf der Straße und zeigt Gesicht. Wie ein Dutzend Unterstützer:innen am vergangenen Samstag zum Start der ersten Tour-de-France-Etappe in Florenz: ausgestattet mit ihrem roten Banner und natürlich dem knallroten Lastenrad. „Nur eine weitere Etappe im Klassenkampf“, schreibt das Collettivo auf Instagram. „Nächste Etappe: 12. Juli.“ Dann feiern sie den dritten Jahrestag der Fabrikbesetzung. Die längste in der Geschichte Italiens. Motto: „Abbiamo fame di un mondo nuovo.“ – „Wir haben Hunger nach einer neuen Welt.“ Nach einer verdammt nochmal besseren Welt.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen