Wir wollen arme und dankbare Flüchtlinge, aber es sind Menschen: Wer betrügen darf und wer nicht
Fremd und befremdlich
Katrin Seddig
Sozialbetrug, das beschäftigt den Deutschen zu Jahresbeginn. Sozialbetrug wird zum Beispiel von Asylbewerbern begangen, die sich mehrere Identitäten zulegen und auf diese Weise mehrfach Sozialleistungen bekommen. In Niedersachsen soll es 2016 dreihundertviermal so eine Art Sozialbetrug gegeben haben. Dreihundertvier Asylbewerber haben also in Niedersachsen den deutschen Staat betrogen.
Den deutschen Staat, der sie netterweise aufgenommen hat und sie netterweise auch noch versorgt. Es gibt freilich noch viel mehr Sozialbetrug, von Leuten, die gar keine Asylbewerber sind, sondern einfach deutsche Staatsbürger. Aber der Sozialbetrug, den Asylbewerber mit Scheinidentitäten begangen haben, macht die Leute sehr viel wütender. Insbesondere die, die gar nicht wollen, dass Asylbewerber Sozialleistungen bekommen, die gar nicht wollen, dass Asylbewerber in unser Land kommen. Mich macht das aber auch ziemlich wütend. Warum?
Ich denke vielleicht, dass ich großzügig bin, indem ich mich auf die Seite derjenigen stelle, die für die Aufnahme von Flüchtlingen sind. Ich denke vielleicht sogar, dass ich deshalb großzügig bin, weil ich die Aufnahme von Flüchtlingen mitfinanziere. Weil ich spende und unterstütze. Und wenn es dann Flüchtlinge gibt, die sich bereichern, dann bin ich enttäuscht, von diesen Flüchtlingen, die arm zu sein haben und gut. Wir wollen arme und gute Flüchtlinge, dankbare Flüchtlinge, die es zu schätzen wissen, was wir für sie tun. Was wir bekommen, sind aber keine armen, dankbaren Flüchtlinge, es sind einfach irgendwie Menschen.
Es sind Menschen, genau wie die, die auf andere Art, als durch Scheinidentitäten, Sozialbetrug begehen. Menschen betrügen, weil sie es können. Weil sie vielleicht nicht an Gerechtigkeit glauben. Weil sie selbst sich nicht gerecht behandelt fühlen und sich eben auch nicht gerecht verhalten wollen. Weil sie vielleicht einfach keine guten Menschen sind. Die Welt, in der wir hier leben, beruht auch gar nicht so sehr auf Gerechtigkeit, sie beruht auf dem Sichdurchsetzen.
Der eine tut dies auf erlaubte Weise, innerhalb der gesellschaftlich akzeptierten Regeln, der andere operiert etwas am Rande dieser Regeln und der Nächste ist kriminell. Aber Geschäfte machen wir alle. Wir schachern und wir wollen alle das Beste für uns herausholen. So läuft das nun mal. VW-Manager täuschen auch, in viel größerem Umfang, als ein Asylbewerber mit Scheinidentität, große Firmen, die Steuern hinterziehen, Banken, die in Waffengeschäfte verwickelt sind, sie alle täuschen und betrügen, führen geheime Konten, deklarieren Lieferungen falsch, fälschen Berichte. Wir haben uns daran gewöhnt. Wer Erfolg hat, hat recht. Wir sind geradezu resigniert, angesichts so großer Betrügereien, Betrügereien riesigen finanziellen Ausmaßes. Wir haben ja auch von solchen Leuten, im Grunde, nichts anderes erwartet. Vom Asylbewerber, dem wir Gutes wollen, dem wir helfen und beistehen wollen, erwarten wir, dass auch er gut ist.
Ehrlich. Anständig. Wer arm und hilfsbedürftig ist, der hat anständig zu sein. Unanständigkeit können sich nur die Vermögenden leisten. Was soll man da jetzt also tun? Vor allem muss man alles erfassen. Das schafft Ordnung. Nicht alle Jobcenter in Niedersachsen erfassen, wie oft sie jemanden zum Beispiel wegen Sozialbetrugs angezeigt haben, meldet der NDR, und das finden viele bedenklich. Die statistische Erfassung kostet vielleicht auch bisschen was. Aber das müsste man dann auch erfassen. Und wenn wir alles erfasst hätten, dann wüssten wir es aber mal, mit wie viel Sozialbetrug wir es in unserem Land zu tun hätten. Mit gar nicht mal so viel.
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
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