: Wir waren dabei. Mehr nicht
Am 9. November 1989 öffnen die Bürger der DDR die Berliner Mauer. Dann verkommt die Revolution schnell zur „Wende“. Alles Flausen, was 1989 für die Besserung des Weltzustandes gedacht wurde?
Die Vorgeschichte: Niemand hatte damit gerechnet – dass der Eiserne Vorhang mitten durch Europa fällt. Dann ging alles sehr schnell: Im Mai beginnt Ungarn den Abbau seiner Grenzsperren zu Österreich; im Juni besucht Michail Gorbatschow die BRD; im August wird die Grenze von Ungarn zu Österreich gelüftet – 700 DDR-Bürger können fliehen; am 11. September öffnet das Land endgültig seine Grenze – und gibt sie auch offiziell für DDR-Bürger frei. In Leipzig werden die Montagsdemonstrationen immer besser besucht; die BRD-Botschaften in Prag und Warschau werden zum Asyllager für DDR-Flüchtlinge. DDR-weit kommt es zu Fluchtbewegungen in die sozialistischen Geschwisterländer.
Der 9. November: Das Politbüro der SED und der Ministerrat überarbeiten angesichts der Massenflucht in aller Eile ein Reisegesetz. Es kommt abends zu der denkwürdigen Pressekonferenz mit Politbüro-Mitglied Günter Schabowski. Sie wird live übertragen. Inhalt: Alle DDR-Bürger können ins Ausland und nach Westberlin reisen. Auf die Zwischenfrage „Ab wann tritt das in Kraft?“ sagt Schabowski den berühmten Satz: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Die Westmedien interpretieren das als den Mauerfall, die überraschten Grenztruppen müssen unter dem Ansturm Hunderttausender nach und nach die Übergänge öffnen. Offiziell eingestellt wird die Überwachung der innerdeutschen Grenze allerdings erst am 1. Juli 1990, dem Tag der Währungsunion.
Wo warst du am 9. November 1989, als die Berliner Mauer fiel? Jedem, der dabei war, fällt bei diesem Gesellschaftsspiel eine gute Geschichte ein. Und wie immer, so gilt auch hier: Selbst wenn nicht wahr, so doch gut erfunden. Die große weltgeschichtliche Umwälzung von 1989, die „Große Erzählung“, überkreuzt sich mit den vielen kleinen Erzählungen. Ob auf der Straße oder ängstlich hinter der Gardine – wir, die ZeitgenossInnen von damals, können heute sagen: Wir sind dabei gewesen.
Das war’s aber auch schon. Die großen Ereignisse des Jahres 1989 haben in Deutschland das historische Bewusstsein nicht umgepflügt. Zu Ende des Jahres 1989 war für die öffentliche Meinung in den beiden deutschen Staaten noch klar, dass in der DDR etwas Unerhörtes geschehen war, eine demokratische Revolution, noch dazu keine steckengebliebene wie die von 1848 oder von 1918, deren Niederlage von vorneherein besiegelt war.
Auch als bei den Leipziger Montagsdemonstrationen des Herbsts 1989 sich der entscheidende Parolenwechsel von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“ vollzog, hofften die DDR-Revolutionäre doch, im dann anlaufenden Prozess der Einigung auf gleicher Augenhöhe mit der Bundesrepublik verhandeln zu können und ein eigenständiges Gut einzubringen, eben die geglückte demokratische Revolution.
Für den Fehlschlag dieser Hoffnung ist kein Ereignis kennzeichnender als der vergebliche Versuch, eine gemeinsame Verfassung für die zukünftig vereinte Republik zu erarbeiten. Das Unternehmen, durchgeführt von demokratischen Oppositionellen der DDR und einer Reihe westdeutscher Staatsrechtler, mündete in einem Verfassungstext, der zwei Grundelemente der demokratischen Opposition in den realsozialistischen Ländern Ostmitteleuropas und der DDR aufnahm: die Einarbeitung der Bürgergesellschaft, der „Civil Society“, als eigenständiger Akteur gegenüber der Staatsmacht und der umfassende Bezug auf die Menschenrechte – und nicht nur auf die Grundrechte der Deutschen. „Jeder schuldet Jedem die Anerkennung als Gleicher“, wie es im Entwurf des Verfassungstextes hieß.
Als Ursache für diesen Fehlschlag ist oft benannt worden, dass die übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung den „Anschluss“ ohne Wenn und Aber einklagte. Sie sah in der Bundesrepublik die Antwort auf eine doppelte Forderung: die nach rascher Verbesserung ihrer materiellen Lebensbedingungen und die nach Einführung eines demokratischen Rechtsstaats. Zweifellos war die Forderung nach der Währungseinheit, die der politischen Einheit präludierte und die wider alle ökonomische Vernunft 1990 beschlossen wurde, von den Einwohnern der DDR gewünscht. Die ultimativ vorgebrachte Losung lautete: Entweder die D-Mark kommt zu uns oder wir kommen zur D-Mark.
Aber rechtfertigt dieser historische Befund die Dampfwalz-Methode, mit der alles, was in 40 Jahren DDR entwickelt worden war, plattgedrückt wurde? Einschließlich des Stolzes der DDR-Bürger auf ihre Revolution, die rasch zur „Wende“ verkam?
Kein Theoretiker hat eindringlicher als Jürgen Habermas schon 1990 das Schicksal der demokratischen Revolution in der DDR und in Ostmitteleuropa beschrieben. Er erkannte in ihr eine „rückspulende Revolution, die den Weg freimacht, um versäumte Entwicklungen nachzuholen“. Es artikuliert sich der Wunsch, an das Erbe der bürgerlichen Revolutionen und gesellschaftspolitisch an die Verkehrs- und Lebensformen des entwickelten Kapitalismus, insbesondere an die EG, Anschluss zu finden. Für Habermas war augenfällig, dass die demokratischen Revolutionen in der DDR und in Ostmitteleuropa durch einen „fast vollständigen Mangel an innovativen, zukunftsweisenden Ideen“ gekennzeichnet waren.
Dagegen wurde später, zum Beispiel von dem Historiker Timothy Garton Ash, eingewandt, das Neue an den Revolutionen von 1989 liege nicht so sehr in deren Zielen, sondern in den praktizierten Methoden. Grundlegend sei deren durchgehalten gewaltfreier Charakter gewesen, die Mischung aus Massenaktionen des zivilen Ungehorsams und der Bereitschaft, in Verhandlungen mit der Staatsmacht Kompromisse einzugehen und den Realsozialisten einen gangbaren Ausweg zu zeigen. So richtig diese Analyse ist, sie vergisst doch, wie genau Mittel und Ziele zusammenhängen. Im Fall der polnischen Solidarność beispielsweise, wo erstmals 1980/81 die Strategie der „sich selbst begrenzenden“ Revolution angewandt wurde, beschloss die Gewerkschaft gleichzeitig als Ziel die „sich selbst verwaltende“ Republik, mit der Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben als Kernstück. Nach 1990 wurde diese Programmatik als pure Taktik gegenüber den realsozialistischen Machthabern bezeichnet, und dies gerade von einer Reihe von Intellektuellen, die sich zur Zeit der legalen Solidarność 1980/81 dem Solidarność-Programm verschrieben hatten. Jetzt, nach 1990, galt nur noch die Minimalposition „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“.
Zweifellos waren die Ideen eines „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und realem Sozialismus 1989 diskreditiert, nicht zuletzt wegen der tiefen ökonomischen Krise im sowjetischen Hegemonialbereich. Aber war Ende 1989 plötzlich jeder Gedanke an die Arbeiterselbstbestimmung weggefegt? Hatte sich der ungarische Theoretiker Ferenc Fehér nur schlicht geirrt, als er prognostizierte, jeder Versuch der Privatisierung von Staatsbetrieben hätte mit dem Widerstand der ArbeiterInnen zu rechnen? Die Einförmigkeit, mit der über den „Dritten Weg“ das historische Urteil verkündet wird, stimmt bedenklich. Sie hat den strengen Geruch einer Propagandaformel, mit der jede Alternative zum Kapitalismus als erledigt abgetan werden soll.
II
Wer die weltweiten Kriege und Bürgerkriege der letzten 20 Jahre, wer den Ausbruch nationalistischer Leidenschaften auch in Europa selbst miterlebt hat, der kann es kaum noch nachvollziehen, welche heißen Hoffnungen das Jahr 1989 begleiteten. Mit dem Ende der ost-westlichen Systemkonfrontation und des Kalten Krieges sah man auch das Ende der Militärblöcke heraufziehen. Schluss mit Nato und Warschauer Pakt. An deren Stelle sollte in Europa ein System umfassender Kooperation treten. Wie auch global ein Zeitalter des Friedens avisiert wurde, mit den Vereinten Nationen als effektiver Friedensmacht. Die Schrift eines Königsberger Philosophen war plötzlich en vogue. Deren Titel nahm den Namen einer Kneipe in der Nähe des heimatlichen Friedhofs ironisch auf: „Zum ewigen Frieden“. Immanuel Kant, der Verfasser der Schrift, war kein Utopist. Er glaubte, auch eine Welt voller Teufel, sofern sie nur rationalen Argumenten aufgeschlossen wäre, würde aus wohlverstandenem Eigeninteresse seine Vorschläge zur Friedenssicherung aufnehmen. Auch die Friedensfreunde des Jahres 1989 machten realistische Vorschläge. Jetzt, wo die Blockade durch die Konkurrenz zweier Supermächte, der USA und der Sowjetunion, beseitigt war, sahen sie die Chance, die einvernehmliche Bearbeitung der globalen Probleme in Angriff zu nehmen: Stärkung der UNO-Institutionen, Errichtung internationaler Regime im Bereich des Umweltschutzes und der Ressourcenschonung, eine neue, gerechtere Ordnung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, effektive internationale Institutionen für den Schutz der Menschenrechte. All diese Reformen entsprächen den Interessen jedes Mitglieds der Staatengemeinschaft. Auf das Jahr der Hoffnung 1989 folgten die Jahre der Bitternis. Konflikte, die zur Zeit des Kalten Krieges von den Supermächten unter Kontrolle gehalten worden waren, brachen jetzt aus. Statt der Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen der Rekurs auf militärische Gewalt, statt des Multilateralismus gleichberechtigter Staaten der Unilateralismus der USA als führender Militärmacht. Statt Entschärfung von Krisen der vorsorgliche Militärschlag, der „preemptive strike“. Das Freiheitspathos des Jahres 1989 wurde jetzt von Präsident George W. Bush in den Dienst einer verlogenen Propaganda im „Krieg gegen den Terrorismus“ gestellt.
Alles Flausen, was 1989 für die Besserung des Weltzustandes gedacht wurde? So sehen es die Anhänger der „realistischen Schule“ in den Staatenbeziehungen. Hier, meinen sie, gilt nur der Naturzustand, das Wolfsgesetz. Aber erfreulicherweise wird diese Einladung zum Zynismus nicht überall begeistert aufgenommen. Das Beispiel des langen, letztlich erfolgreichen Kampfs um die Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs zeigt, dass die Ideen von 1989 nicht allesamt mausetot sind. Baltasar Gracián, ein spanischer Jesuit des 17. Jahrhunderts, hat uns eine Anleitung zur Weltklugheit hinterlassen. In ihr schlägt er vor, das Wort Enttäuschung auseinanderzuschreiben: Ent-Täuschung. Getäuscht haben sich die Protagonisten des Jahres 1989 hinsichtlich der Mühen des Weges. Hinsichtlich ihres Ziels brauchen sie sich nicht zu ent-täuschen.
CHRISTIAN SEMLER, 69, taz-Autor, damals Osteuropa-Redakteur, setzte sich im Jahresverlauf 1989 nach Berlin in Bewegung, um nichts zu verpassen.